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Artikel vom 18.08.2005

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Mit Stumm unterwegs

Premieren-Bericht

Linie 1 pünktlich

Vor ausverkauftem Haus bot am Mittwochabend, 17. August 2005, das «Linie 1» Openair-Musical der Theatergruppe Rattenfänger eine glanzvolle Premiere und wurde nach der zwei Stunden dauernde Aufführung vom Publikum mit Standing Ovations gefeiert

Von Reinhardt Stumm



Stehender Applaus für das rassig Dargebotene, für höchst beeindruckende Leistung und ungeahnte Talente: Nichtendenwollende Begeisterung und «Vorhänge». (Foto: J.-P. Lienhard, Basel @ 2005 - Weitere Bilder am Schluss dieses Artikels.)



MUTTENZ (BL).- Wie alles Schwierige eigentlich ganz einfach: Was können meine Spielerinnen und Spieler und was können sie nicht? Erkenne ihre starken Seiten und belaste sie nicht falsch. Träume nicht von Kunst, das kann nur schiefgehen, lass sie spielen, das können sie und das wollen sie, dafür sind sie auch bereit, sich krummzulegen (heisst: zu arbeiten)! Lass dein Fingerspitzengefühl walten, gib ihnen verständliche Regeln und bringe ihnen bei, selber zu erkennen, wann sie gut und wann sie nicht gut sind.

Denn auch das ist Regie - sie zu ermutigen, ihre Stärken auszuspielen, ihre Schwächen - sagen wir mal, nicht auszuleuchten. Verbiete ihnen falschen Ehrgeiz, fordere ihren Charme heraus. Charme überspielt fast jeden Fehler - und überlege, was überspielen eigentlich heisst! Sie haben ihn ja wundervoll - und können ihn, einmal befreit, selbst als Schweizer auch noch mit nach Haus nehmen, wo niemand böse darüber sein kann.

In einer Laienspielschar werden kaum Stimmen zu finden sein, die morgen an die Oper wegengagiert werden. Ist auch nicht nötig. Aber es werden immer wieder Menschen zu finden sein, die verblüffende natürliche Anlagen zur Schauspielerei haben und die darüber verfügen können. Bei den Rattenfängern kann man sie an zwei Händen nicht abzählen, das ist ein Talentschuppen.

Souveräner Umgang mit dem Text

Danny Wehrmüller kann eine ganze Menge von dem, was hier so thesenhaft und leitfadenartig (und nur aus langem Zuschauen abgeleitet) festgestellt wird. Nicht die Einzelleistung, die Gruppe macht es. Nicht Artistik, das erkennbare Vergnügen am freien Körperspiel macht es. Und am freien Wortspiel wohl auch!

Mir machte Spass, dass Wehrmüller durchaus souverän mit dem Text umgeht - ich rede gar nicht von der Rahmenhandlung, wie komme ich vom Dialekt in die Hochsprache, wie von Muttenz nach Berlin? Dass ich einen Spruch des Malers Max Liebermann erkenne, der nicht zum Stück gehört, aber hinpasst wie die Faust aufs Auge («Man kann gar nicht so viel fressen, wie man kotzen möchte»), belegt eine Weltläufigkeit, die mir gut gefällt. Und das noch schnell: Die glänzende Nummer mit den schwarzen Tanten, den Wilmersdorfer Witwen von anno dunnemals (wir sind in Berlin!), das muss den Rattenfängern erst mal einer nachmachen!

140 tolle Kostüme für 23 Schauspieler

Und da fängt die Regie an: Auftritte, Abläufe, Abgänge. Zusammenspiel, Parallelspiel, Alleinspiel ohne allein zu sein. Man kann diese «Linie-1»-Inszenierung auseinandernehmen wie ein altmodisches Uhrwerk (ein neues ist nur komplizierter und zeigt auch nur die Zeit; der Reiz für den Betrachter ist aber gerade, die Mechanik zu erkennen und beurteilen zu können, wie sie funktioniert).

Alles gleitet, fliesst, springt auch manchmal, und immer ist es dabei das hohe Vergnügen an einem Mass von Professionalität, das für eine Laiengruppe schon sehr bemerkenswert ist. Allein die Umzieherei! 23 Ensemblemitglieder in ungefähr 140 Rollen - das ist ja nicht gerade wenig.

Nichts als Lob!

Es klappte wie am Schnürchen (so sah es wenigstens aus, und darauf kommt es an!). Und ist es nicht erstaunlich, dass es trotzdem noch und scheinbar mühelos gelang, über die Typen hinaus noch durchaus erkennbare Individuen auf die Bühne zu bekommen? Und welche blühende Phantasie bei der Kostümgestaltung, du liebe Zeit!

Nichts als Lob? Ja, nichts als Lob! Dass die Premiere noch nicht den glatten Fluss, das bruchlose Ineinandergleiten der Nummern hatte, das kann gar nicht anders sein! Die nächsten Vorstellungen werden die Ecken abschleifen, werden Korrekturen der Akustik bringen, die Musik wird geschmeidiger, die Einsätze werden genauer sein - nichts ist Übung!

Beifall verdient? Weiss der liebe Himmel, überaus!



Fotos und Legenden: J.-P. Lienhard, Basel © 2005




Bizarre und darum auch grosse Lachnummer: Der Auftritt der Wilmersdorfer Witwen. Die Szene mit dem Riiibiise, der Schreckschraube, der alten Gumsle sowie der eisernen Zwetschge mit den behaarten Männerbeinen ist wahrscheinlich von den «Monty Pythons» zugemietet worden… (was ja wohl erlaubt ist, zumall, wenns nix kostet!).





Gleich gehts los mit dem Elektroschock «Bitte Fahrausweise vorweisen»: Die Kontrolleure der U-Bahn-Linie 1 heissen in Berlin «Kontrolletti» und sind mit allen faulen Ausreden gewaschen.





Und dennoch bricht «Krieg» aus, wenn die «Kontrollettis» auftauchen, was hier zu einem Massen-Slapstick ausartet, bei dem man nicht weiss, wohin gucken, weil an jedem Ende des Nudelbretts was passiert….





Der «Krieg» ist in vollem Gange: Ein einziger «Fahrschein» (Billett) macht im Getümmel von Schnorrern zu Pennern und zurück die Runde. Die «Kontrollettis» verlieren die Übersicht.





Nochmals der Schreckschrauben-Verein mit den beiden Handlungs-Hauptdarstellerinnen.





Die Kostüme verdienen einen besonderen Oscar. Was Kurt Walter, der Bühnenbildner und Kostümentwerfer, zusammen mit den Kostümschneiderinnen wohl für vernügliche Stunden damit verbracht haben, als sie ihre scharf beobachteten Einfälle in die Bekleidung für alle die schrägen Vögel und Penner in Stoff einbrachten? Und das 140 mal - jedesmal eine Augenweide. Darum hier die Namen der Mitarbeiterinnen des Kostümateliers: Lotti Köpf-Jaberg, Barbara Leupin, Regina Oetterli, Anna Sutter, Silvia Stingelin, Erika Haegeli Studer.





Die Handlungs-Hauptdarstellerin in der Mitte mit dem roten Béret, und dahinter die beiden Mädchen, deren Talent mir besonders auffiel.





Und noch ein Szenenbild aus der U-Bahn Lienie 1.





Versuch, mit einem Nikon-Weitwinkel 24 mm, alle tollen Schauspielerinnen und Schauspieler von «Linie 1» beim Schluss-Applaus auf der Nudelbrett-Bühne in Muttenz auf ein Bild zu bannen: Misslungen, oder eben nur teilsweise erfüllt! Zusammen mit dem «Back-Staff» dürften gut und gerne 100 Personen an der Aufführung mitwirken.



Weitere Aufführungs-Daten und Infos siehe untenstehende Links

Bemerkung von jpl:

Hat Ihnen der Abend gefallen? Waren Sie amüsiert? Waren Sie beeindruckt von der Umsetzung der Schauspieler, wie sie die Figuren «aus dem Leben», aus dem Leben der echten, der «real existierenden» Penner und Süchtigen am Rande der Grosstadt-Gesellschaft darstellten? Haben Sie die «Akrobatik» der «Lumpi»-Darstellerin als «schauspielrerische Leistung» erkannt - bloss als das, und nicht als das, was man inzwischen nicht mehr in den Zeitungen lesen kann, aber oft auf der Strasse darüberstolpert? Angewiedert, empört, scheisskleinbürgerlich, eigentumsneurotisch, aufrecht, staatserhaltend, steuerzahlend, christlich - ja, christlich (!) - ignorant? Fielen Ihnen die Kostüme der «Trash»-Figuren auf, und fanden Sie diese «authentisch»? Amüsierten Sie sich über die Süchtigen, die «eine Mark» erbettelten? Hat Sie der tolle Musical-Abend nicht weiter als bis zu Ihrer Nasenspitze berührt, oder nur so «e Bitzeli», weil die Mitwirkenden das so toll machten? Vielleicht das Thema ins Komische, Groteske umwandelten, also «geniessbar» machten? Beantworten Sie diese Fragen und die Frage, ob Sie hartherzig oder realitätsfremd sind, indem Sie auf den nachfolgenden Link zu einer früher auf webjournal.ch erschienenen «Glosse» von Jürg-Peter Lienhard klicken und dann lesen und (eventuell) zu verstehen versuchen. Ihre Meinung interessiert mich, uns alle - brennend!


Von Reinhardt Stumm

Für weitere Informationen klicken Sie hier:

• Vorschau mit Infos, Aufführungsdaten und Link zu den Rattenfängern

• Thema «Süchtige» und «Penner» für alle, die noch Herz, Grips und Liebe im Ranzen haben!


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