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Artikel vom 31.08.2005

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Reusdals Räuspern…

Der angewurzelte Rolltreppen-Mensch

Kaum haben die Menschen die Rolltreppe betreten, versagen die Beine ihren Dienst

Von Mitch Reusdal



Wenn diese dumme Kuh da vorne sich nur an die simple Regel der Profi-Pendler halten würde: «Rechts stehen, links gehen». Aber auch Ochs und Esel bleiben stehen, wenn eine Treppe rollt… (jpl)



Niemand lässt sich gern stören, wenn er einmal getragen wird, wenn nicht auf Händen, so doch von einer mechanischen Vorrichtung. Was für ein seltenes königliches Gefühl!

Die Menschen können in verschiedene Klassen eingeteilt werden: Vielflieger und Halbtax-Besitzer, Bier- und Weintrinker und so weiter. Oder Nomaden und Sesshafte. Die einen brauchen ihre Beine, die anderen ihr Sitzorgan. Wer geht, ist noch nicht angekommen. Wer sitzt, ist gut aufgehoben.

Der Geist hat etwas Nomadisierendes, etwas Unruhiges und Suchendes, Sprunghaftes. Besitz setzt Sesshaftigkeit voraus. Aneignung ist die Folge einer territorialen und stationären Forderung und mit einem zwingenden Stillstand verbunden.

Auch Fahren ist – anders als man erwarten würde – etwas, das mit Unbeweglichkeit zu tun hat. Die fahrende Person verharrt in einer sitzenden Position, während das Auto oder der Zug sich durch das Land fort bewegen.

Es entsteht manchmal der Eindruck, als liege in der Mobilität aus eigener Körperkraft etwas Ehrloses, Untergeordnetes, fast Ordinäres. Wer geht, ist selber schuld. Man nimmt das Auto, um Zigaretten am Kiosk zu holen. Vornehm ist die sitzende Lebensweise. Siehe Büromenschen und Strassenwischer.

Kundenverwöhnung

Diese Vornehmheit lässt sich auch am Verhalten der Menschen auf der Rolltreppe, zum Beispiel in den grossen Warenhäusern, exemplarisch studieren. Die heimliche Aufgabe dieser Aufstiegshilfen besteht darin, die Menschen so effizient wie möglich ins Innere zu locken – regelrecht zu saugen. Einmal drin, ist die Verführung schon zur Hälfte vollbracht, der Kunde wird zum König degradiert.

Aber so benimmt er sich auch – königlich. Kaum hat der Fuss die Treppe, die ihn auf der Stelle wegzieht, betreten, bleibt der restliche dazu gehörende Teil des Körpers wie angewurzelt stehen. Kein Schritt, keine Bewegung. Ein Anfall von Lähmung. Der Mensch rührt sich nicht von der Stelle, es ist die Rolltreppe, die ihn bewegt, fort trägt, in die Höhe hebt.

Ich habe mich oft gefragt, warum die Beine so oft ihren Dienst versagen, sobald die Rolltreppe betreten ist. Wahrscheinlich deshalb, weil die Menschen getragen werden wollen, wenn schon nicht auf Händen, so doch wenigstens von einer mechanischen Vorrichtung. Der Kunde will umsorgt, umschmeichelt, verwöhnt werden. «Wir sind für Sie da, wir tun alles zu Ihrer Zufriedenheit.» Kein Schritt aus eigenem Antrieb, nur das nicht. Es wäre unwürdig. Die anderen sollen was tun.

Wutentladung

Und in dieser Haltung wollen sich Herr Kunde und Frau Kundin nicht stören lassen. Deshalb packt sie sofort eine unbändige Wut, wenn jemand an ihnen vorbei will, und entlädt sich der aufgestaute Zorn in wüsten Beschimpfungen. «Haben Sie es vielleicht pressant?», «He, was glauben Sie eigentlich?», «Was fällt ihnen ein?», «Können Sie vielleicht nicht warten?».

So eine Rücksichtslosigkeit! So eine Majestätsbeleidigung! Wehe dem, der nicht schön in der Reihe mit den anderen bleibt. Die Würde der Kunden, die sich einen Augenblick lang König wähnten, ist gestört. Das zahlen sie Dir heim, das sag‘ ich Dir. Warte nur ab.

Auf der Rolltreppe kann man viel lernen über die Motivation, also die Beweggründe, warum die Menschen sich weigern, sich zu bewegen. Weil auf der Rolltreppe dem Menschen das Gehen abgenommen und er erst jetzt seine wahre Grösse erreicht. Dass er sich dabei stören lassen würde – undenkbar. Niemals. Nie.


Von Mitch Reusdal


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