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Artikel vom 23.06.2005

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J.-P. Lienhards Lupe

Glosse

Hilfsbereite und G‘schäftlimacher

Randbemerkungen um den Strom-GAU I bei den SBB: Erstaunlich effizientes Krisenmanagement

Von Jürg-Peter Lienhard

Die einen halfen einfach, weil sie sahen, worum es ging - andere witterten die Chance, ein Paar Fränkli aus der bedauernswerten Situation herauszuschinden: Ein Kerl im Bahnhof Zürich warb auf einem hingesudelten Karton für die Mitfahrt im Privatwagen nach Basel für 90 Franken für je einen der vier freien Plätze.

Dass ihm niemand den Karton um die Ohren schlug oder seinem Privatwagen einen kräftigen Tritt an den Kotflügel gab, hing einfach damit zusammen, dass der «Service» dieses Eigentumsneurotikers eben jenseits des Bedarfs lag: Die allermeisten der Gestrandeten erwischte der Strom-GAU der SBB sowieso auf der Reise in den Feierabend und nicht zu unaufschiebbaren Business-Meetings.

Allerdings hat der Strom-GAU auch mal ganz deutlich gemacht, was so in einer «anonymen» Masse, wie den Zugsreisenden, alles an Menschlichem und Individuellen schlummert: Wie den Zeitungen am Tag des ersten (!) Strom-GAUs zu entnehmen war (der zweite GAU folgte dann genau 24 Stunden später in der Romandie), suchten die Reporter fast vergebens nach Passagieren, die «ungehobelt ausriefen»: Fast alle steckengebliebenen Reisenden nahmen die Panne mit Humor, und es entstanden durch das gemeinsame Erlebnis zwischen wildfremden Menschen richtiggehende «Schicksalsgemeinschaften» auf Zeit.

Galgenhumor statt Gefluche

In den Gazetten konnte man lesen, dass die sonst so kontaktscheuen Eidgenossen plötzlich die «Knospe» auftaten, sich mit Nachbarn zu unterhalten begannen und einen unerwarteten «Galgenhumor» entwickelten. Und dann, als das Ausmass der Panne ruchbar wurde, bewiesen fast die meisten einen ungeahnten Sinn für Improvisation und Kreativität: Kravatten-Heinis mit Business-Köfferchen aus der ersten Klasse hechteten unstandesgemäss eine steile Bahnböschung hinauf und machten ungeniert Autostopp.

Im Bahnhof Bern schliesst die dort eingemietete Migros normalerweise um 21 Uhr, aber als der Geschäftsführer bemerkte, was los war, blieb der Laden bis über 23 Uhr hinaus offen, bis alle Durstigen und Hungrigen, die noch keinen Anschluss zum Weiterreisen hatten, mit dem Nötigsten versorgt waren. Natürlich machten allenorten die Bahnhof-Geschäfte und -Restuarants enorm Umsatz, aber sie rissen sich dafür auch mächtig am Riemen, wie überall einhellig bestätigt wurde.

Erstaunlich effizientes Krisenmanagement

Wenngleich nun einige der SBB-Verantworlichen mit gnadenloser Haue zumindest von Seiten der Politk rechnen müssen - das Schweizer Fernsehen zielte bereits auf etliche Köpfe - hat das Ereignis aber gleichwohl offengelegt, dass die SBB über ein wirksames Potenzial für die Bewältigung grosser Pannen verfügt und es auch effizient eingesetzt hatte: In nur drei Stunden war das Chaos grossenteils beseitigt! In dieser Zeit wurden über 1500 steckengebliebene Züge zumindest an eine der nächsten Stationen geschleppt - eine ganze Anzahl gar aus stockfinsteren Tunnels.

Innert kürzester Zeit wurden tausend SBB-Mitarbeiter zur Kundenbetreuung aufgeboten und eingesetzt. Rasch war auch die Trinkwasserversorung für die Abertausenden von Gestrandeten in den Bahnhöfen und in vielen Zügen organisiert - zum grössten Teil kostenlos. Die SBB-Mitarbeiter leisteten in den Bahnhöfen und auf den Strecken Einsätze, die ihre ganze Kraft und über Gebühr forderten: In den Schaltzentralen musste rasch und pragmatisch disponiert werden; auf den Perrons der Ansturm von Fragen bewältigt werden, Neuigkeiten ausgerufen, improvisierte Fahrgelegenheiten angekündigt und beschafft werden - es ist eigentlich unglaublich, dass die SBB-Leute dies alles in drei Stunden schafften!

Schlaflose Nacht für SBB-Mitarbeiter

Hinzu kommen auch die Vorbereitungen für den nächsten Tag, um dann die gewohnte Routine so weit wie möglich wiederherzustellen. Schliesslich war nach Wiederaufnahme des Betriebes nach den GAU-Stunden «kein Zug dort, wo er hingehörte». Dies alles musste in der Betriebspause ab 1 Uhr bis 4 Uhr in der Frühe wieder geordnet werden. Hunderte von SBB-Mitarbeitern hatten daher keine Chance, in dieser langen Nacht, geschweige denn am Morgen darauf ein oder beide Augen zuzutun.

Der Strom-GAU der SBB war ein nationaler GAU, der in der Schweiz wohl niemand für möglich gehalten hätte. Immerhin forderte er weder Menschenopfer noch Materialschäden, und die Eidgenossen sind seit diesem 22. Juni 2005 um eine Erkenntnis reicher: Dass die Technik auch in der Schweiz seine Tücken hat…

Schon kommen die Ratten aus ihren Löchern…

Und schon beginnen die Ratten aus ihren Löchern herauszukriechen und falsche Töne zu pfeifen. Abgesehen von den Profiteuren, die jetzt wohl Phantasie-Rechnungen an die SBB stellen - dummerweise hat SBB-Generaldirektor Benedikt Weibel angekündigt, dass sich sein Unternehmen «sehr kulant verhalten» wolle - hörte und las man bereits, dass die Atom-Lobbyisten die Meser wetzen. Doch eines macht denen wohl einen Strich durch die Rechnung: die SBB sind unabhängig vom nationalen Verbraucherstrom, denn sie haben ihre eigenen Kraftwerke, und ihr Strom ist niedriger getaktet, so dass er auch nicht kompatibel mit Atomstrom ist…

Von Jürg-Peter Lienhard


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