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Artikel vom 25.06.2004

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J.-P. Lienhards Lupe

Amerika in die Seele geschaut

Radio DRS bringt eine kongeniale Radiofassung des berühmten «Jugendbuches» von Mark Twain: «Tom Sawyer» - das eigentlich für Erwachsene geschrieben wurde

Von Jürg-Peter Lienhard



Die Erstausgabe von Mark Twains «Tom Sawyer» war illustriert: Der Lausebengel im zeitgenössischen Kostüm - noch vor der Erfindung von Nike, Adidas und Konsumkonsorten…


Es ist wahrscheinlich einer dieser «gemachten» Irrtümer, mit denen man unbequeme Wahrheiten aus dem Verkehr zieht: Indem entweder der Autor auf einen möglichst hohen Piedestal «entsorgt» wird oder dessen Bücher in eine Schublade gesteckt werden. Zum Beispiel in eine mit der Aufschrift «Klassiker» oder «Dekoration zwecks Bildungsprotz»; ja und dann eben auch «Jugendbücher». Mark Twain und sein «Tom Sawyer» ist so ein Beispiel: Was er darin erzählt, geht tief an die seelischen Wurzeln der amerikanischen Gesellschaft - ein Grund, um das Buch aus der Schublade «Jugendbücher» ans Tageslicht zu holen.

Mark Twain hat sich eines weisen Tricks bedient, um sich via geistiges Hintertürchen mit seiner Kritik an der amerikanischen Gesellschaft Gehör zu verschaffen: Der Altmeister der Gesellschaftsanalyse verpackt das bigotte, ungebildete Umfeld in eine lebendige Geschichte um den Lausebengel Tom Sawyer und seine Freunde. Schliesslich emigrierte aus Europa nicht das Bildungsbürgertum, sondern Arme, Glücksritter, Tagediebe, Verbrecher, Sektierer, aber auch Verfolgte und «Gemiedene», die sich als Eroberer ein fremdes Land unterwarfen und kolonialiserten.

Mark Twain hat mit dieser ersten Geschichte über Tom Sawyer, in die er viele seiner Jugenderinnerungen einbrachte, sowie mit dem «Nachfolgeroman» über Huckleberry Finn, die Gesellschaft der amerikanischen Südstaaten so klug analysiert, dass dies bis heute noch in vielen Facetten seine traurige Gültigkeit hat.

Denken Sie an die Szene in Huckleberry Finn, als zwei Quacksalber-Betrüger von der Dorfgemeinschaft geteert und gefedert und auf einer Stange sitzend von der johlenden «gerechten» Menge aus dem Dorf getragen wurden. Diese Szene kennen Sie doch? Denn wer hat Huckleberry Finn nicht auch gelesen in seiner Jugend? Aber mögen Sie sich an den Nebensatz von Mark Twain erinnern - ein Nebensatz, der uns Kindern damals nicht auffiel, weil wir die Strafe für die beiden, die unsere Helden Huck und den Nigger Jim so quälten, für «gerecht» hielten?

Der Nebensatz lautete: «Es ist traurig, was Menschen den Menschen antun können.» Hier kommen uns unweigerlich die Foltergeschichten aus dem Gefängnis Al Ghraib im Irak in den Sinn: «Es ist traurig, was Menschen den Menschen antun können.» Die Folterer sind Amerikaner, die im Sinne der amerikanischen «Pioniere» das Western-Weltbild von «Recht» und «Gerechtigkeit» weiterleben. Eine Rechtsauffassung, die nahe der Lynchjustiz beheimatet ist.

Der gute Nigger Jim, der sich so vor dem Erwischtwerden als entlaufener Sklave fürchtet, ist das Sinnbild des Menschenbildes der Amerikaner: Ein Nigger ist weniger wert als ein Hund; ein entlaufener Nigger sowieso. Ein Araber ist ein… undsoweiterundsofort.



Der Zeitgeschmack in der Illustration vor 130 Jahren wirkt heute antiquiert. Mark Twains «Tom Sawyer» ist jedoch als Buch für die Jugend und andere kluge Menschen immer noch aktuell.


Wenn man als Erwachsener die Geschichten der «Lausbuben» Tom Sawyer und Huckleberry Finn nochmals liest - man braucht sie ja nicht nochmals lesen, weil man sie als Zehnjähriger schon abhaken konnte (?) -, muss etwas geschehen sein, das als Auslöser mächtig Energie erzeugte. Dies geschah mir an einem Sonntagabend beim Abwasch in der Küche: Meine Hände waren nass, als ich nach dem obligatorischen «Echo der Zeit» deswegen das Radio nicht abschalten konnte. Darum begann die «Kindersendung» «Looping» und damit das Hörspiel «Tom Sawyer», das mich sofort die Ohren spitzen liess. Es war nicht das «déjà vu», oder besser gesagt das «déjà entendu», sondern die geschickte Inszenierung, deren Qualität meine Aufmerksamkeit erzwang.

Die «Qualität» hat einen Namen, wenngleich einen unverfänglich schweizerisch tönenden: Rosalina Zweifel. Sie ist die Autorin der Sommerserie «Tom Sawyer» nach Mark Twain, die in vier Teilen ab Sonntag, 4. Juli 2004 (welch Zufall: dem amerikanischen «Unabhängigkeitstag»), jeweils an den Sonntagen um 19 Uhr in «Looping» («Der Sendung für Kinder und andere kluge Leute») als Wiederholung ausgestrahlt wird.

Rosalina Zweifels Radiofassung von «Tom Sawyer» war für mich eine Entdeckung, respektive eine Wiederentdeckung. Ich habe in meiner Bibliothek in die Abteilung meiner Jugendbücher gegriffen und sofort mit beiden Romanen von Mark Twain (wieder) zu lesen begonnen. Die Radiofassungen habe ich gleichwohl weitergehört, denn sie sind ein wahrer Hörgenuss - zumal, weil sie aus den Geschichten meisterhaft das Essentielle herauszudestillieren vermochten. Satz um Satz weckten sie meine Erinnerung.

Doch danach wollte ich mehr über Mark Twain wissen und beschaffte mir eine bearbeitete Fassung seines Gesamtwerkes. Da sind Geschichten drin, die nichts mit einem «Jugendbuchautor» zu tun haben. Auch nichts von seinem sprichwörtlichen Humor - ein «Humorist» ist Twain beileibe nicht und nie gewesen. Die wohl bis heute noch fortlebenden Mentalitäten der Südstaaten beschreibt er in vielen vielschichtigen Geschichten aus dem südlichen Mississippi. Ein besonderer Genuss für «erwachsene» Leser ist die Novelle «Die 1-Million-Dollar-Banknote», mit der er die Reichen verspottet und sich für sozial Unterdrückte einsetzt. Ein höchst aktuelles Thema für die gegenwärtige USA, wo über 40 Millionen Menschen keine Krankenversicherung haben, weil sie sich diese nicht leisten können…

Mark Twain ist übrigens sein Pseudonym, denn er hiess «rechtmässig» Samuel Langhorne Clemens, wurde am 30.11.1835 in Florida (Missouri) geboren und verstarb am 21.4.1910 hochbetagt in Redding (Connecticut). Das Pseudonym entlehnte er aus seiner Tätigkeit als Lotse auf dem Mississippi, wo die am häufigsten gerufene Logmarke «Mark Twain» vor Untiefen warnte. Die daraus entstandene Geschichte ist eine hintersinnige Beschreibung von Gedächtnis-Athleten, deren phänomenale Fähigkeiten nichts mit Intelligenz und noch weniger mit Menschlichkeit zu tun haben. Auch das eine frühe Kritik am amerikanischen IQ-Glauben, der noch heute den IQ über den Charakter stellt.

Vielleicht nehmen auch Sie die Hörspielfolge von Rosalina Zweifel zum Anlass, den «Tom Sawyer» mal mit «erwachsenem Verstand» anzuhören und gar weitere Werke von Mark Twain zu lesen. Die Ferien stehen vor der Tür, und dieser Tip ist vielleicht eine Hilfe in der Qual der Wahl der Ferienlektüre. Übrigens: Mark Twain erzählt nicht nur amerikanische Geschichten; er ist auch Kenner der europäischen Geschichte und Legenden («Ein Yankee aus Connecticut an König Artus‘ Hof»).

Die oben erwähnte bearbeitete Auswahl des Gesamtwerkes von Mark Twain ist eine Exklusivausgabe des Schweizerischen Buchzentrums Olten, die 1971 in Zusammenarbeit mit dem Carl-Hanser-Verlag, München, in zwei Bänden erschienen ist. Wenn ich mich recht entsinne, habe ich die beiden Bücher etwas später bei Exlibris erstanden, als Exlibris eine Linie fuhr, die günstig («billige») grossartige Literatur herausgab. (Heute jedoch ist Exlibris ein Synonym für miesen Schrott - gäll, liebe Migros!)

Die Sendedaten

Looping - Sommerserie (Wiederholung): «Tom Sawyer» von Rosalina Zweifel nach Mark Twain (1/4)


Mit Ueli Beck, Elisabeth Schnell, Ronny Spiegel, Petar Radovanovic, Charlotte Joss, Andrea Vetsch, Leo Roos, Heinz Bühlmann, und anderen - Musik Cyril Boehler und Rudolph Dietrich - Technik Martin Weidmann - Regie Isabel Schaerer - Produktion SR DRS 1997 -

- Teil 1: Sonntag, 4. Juli, 19.00, DRS 1
- Teil 2: Sonntag, 11. Juli, 19.00, DRS 1
- Teil 3: Sonntag, 18. Juli, 19.00, DRS 1
- Teil 4: Sonntag, 25. Juli, 19.00, DRS 1
in: «Looping» («Der Sendung für Kinder und andere kluge Leute»).

Von Jürg-Peter Lienhard


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