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Artikel vom 18.02.2009

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Zugeflogen

Von Spule

Neuer Nachbar

Mittwochs-Glosse

Von Gast

Als der Lippuner gestorben war, stand das Haus Nummer 36 ein paar Monate lang leer. Mitte Mai aber waren die Fensterläden wieder offen, und von meinem Balkon aus sah ich einen Mann, wie er mit einem Spindelrasenmäher den Vorgarten mähte.

Ich kümmere mich sonst kaum um die Leute in meiner Strasse, aber dieser neue Nachbar erregte sofort meine Neugier, nein besser: Meine Bewunderung. Er war ganz anders als wir.

Wir in unserer Strasse, wir haben ein Gesicht und manche von uns auch nur eine Fresse. Er aber hatte - ich kann es nicht anders nennen - ein Haupt und vornedrin ein Antlitz. So etwas zwischen Christus und Osama Bin Laden mit einem Schuss Bruder Klaus dazwischen. Und erst sein Blick! Er liess ihn wahrhaftig aus stahlblauen Augen in die Ferne schweifen, während wir hier seit Jahrzehnten nur kurzsichtig auf die Beutelchen mit der Hundescheisse glotzen.

Sprechen hörte ich ihn nie, aber auf dem Weg zur Tramstation bemerkte ich, dass er schreitend leise vor sich hin summte, so als hielte er mit einer gütigen Gottheit eine geheime Zwiesprache, einer Gottheit, die uns Eingesessenen längst abhanden gekommen ist.

Könnte es sein, dass nun ein Prophet oder gar ein Heiliger im Haus Nummer 36 lebt?

Allerdings gehen die ja früh ins Bett und stehen spätestens um sechs wieder auf um Glocken zu läuten oder Heil und Unheil zu verkünden. Mein neuer Nachbar aber ging spät ins Bett - noch um zwei Uhr nachts brannte im Wohnzimmer das Licht - und dass er spät aufstand, ergab sich schon daraus, dass er am Freitag seine Kehrichtsäcke immer erst dann vor die Türe stellte, wenn der Sammelwagen längst durchgefahren war.

Er musste also wohl ein Philosoph oder ein Forscher sein, wahrscheinlich sogar einer von denen, die den Nobelpreis mal vor lauter Bescheidenheit ausgeschlagen haben oder denen man diesen Preis weggeschnappt hat, indem man schnöde ihr Lebenswerk kopierte.

Es dauerte zwei Wochen, bis ich mir endlich ein Herz fasste. Ich machte ein Gesicht wie ein Politiker vor den Wahlen und sprach ihn vor seiner Haustüre respektvoll an: «Darf ich mich vorstellen - ich bin Ihr Nachbar von schräg gegenüber.»

«Dann sind Sie also wohl das Arschloch, das seinen Mercedes immer auf meinen Parkplatz stellt», sagte er. Und dabei roch er stark nach Pflaumenschnaps.

Auf meinen ersten Eindruck kann ich mich nicht mehr verlassen. Und auf den zweiten wohl auch nicht.


Von Gast


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