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Artikel vom 06.11.2007

Mit Schmidt auf Reisen 10

Leben im Zwischenraum

Lebensaugenblicke in einem anonymen Bahnhofbuffet in Frankreich

Von Aurel Schmidt



Wartezeiten sind geschenkte Lebenszeit, vor allem in einem anonymen Bahnhofbuffet, wo sich nichts Bedeutendes ereignet. Alle Fotos: Aurel Schmidt, Basel © 2007


Von seinen zahlreichen Reisen berichtet der Basler Schriftsteller und frühere Redaktor Aurel Schmidt in einer lockeren Folge kürzerer Reisebilder. In der neuen Folge erinnert er sich an einen Zwischenhalt auf einem französischen Bahnhof und wie im Verlauf der Wartezeit das Leben an ihm wie in einem Film vorbeizog.

Der Zug aus Reims traf kurz vor halb zehn Uhr ein; um halb elf fuhr der Anschlusszug nach Strasbourg weiter. Heute kann ich nicht mehr sagen, wie der Ort hiess, wo ich umstieg. Ich habe versucht, es mit dem Fahrplan herauszufinden, aber es war unmöglich, vielleicht wegen eines Fahrplanwechsels. Oder aus einem anderen Grund. Macht nichts. Es war ein Ort ohne Bedeutung, das weiss ich noch genau, ein anonymer Ort, passend zum Umsteigen, mehr nicht. Aber gerade diese Anonymität verleiht dem Augenblick eine höhere Bedeutung.

Ich setzte mich in das Buffet de la Gare, trank einen Café au lait, bestellte einen Croissant und dachte, dass der einstündige Aufenthalt, eingeklemmt zwischen dem Gewesenen und dem Bevorstehenden, eine wunderbare Gelegenheit sei, um einen kurzen Augenblick im Leben wie in einer künstlichen Laborsituation zu untersuchen. Der Croissant und der Kaffee schmeckten, wie es nicht anders sein konnte. Ich war weder in Dänemark noch in den USA, sondern in Frankreich. Die Mischung des Kaffeegeschmacks mit dem Croissant war wie eine Geografielektion, so wie zum Beispiel die Käsesorten erlauben, eine französische Landkarte zu zeichnen.

Das Erreichen der Mitte

Ich war unterwegs und sagte mir, dass das Unterwegssein nichts anderes bedeutet als das Leben. Nicht fortgehen, nicht ankommen, sondern da sein.

Die Zeit verging unbeirrt, strukturiert nur durch die gelegentlichen Durchsagen im Lautsprecher, die mich kaum störten, anders als das Wummern aus der Music-Box. Es gab nichts, was mich drängte oder zog, sondern es war – wie soll ich sagen? Es war wie das Gefühl, die Mitte erreicht zu haben, den Mittelpunkt, das Zentrum, den Kern, die Essenz. Jetzt war ich da, uneingeschränkt da, aber nur kurz und vorübergehend. Es war ein Moment wie ein Still aus einem Film. So, wie aus der Abfolge vieler Stills sich ein Film ergibt, ein Filmablauf, eine Bewegung, so entsteht aus der Aneinanderreihung vieler Momente im Leben ein Lebenslauf wie ein Film.

Wartezeiten haben ihren eigenen unbeschreiblichen Reiz (ich versuche trotzdem, ihn zu beschreiben, und merke, wie schwierig es ist). Man sollte niemals über das Warten jammern. Wartezeiten sind geschenkte Lebenszeit. Ausserdem sind es Übergangszeiten, wo etwas aufhört und etwas Neues beginnt, «rites de passage», gewissermassen ein Initiationsritus. Ein grosser Schritt wird getan, eine Erneuerung findet statt, eine Selbstherstellung. Am besten wird dieser Schritt irgendwo an einem fremden, anonymen, extremen Ort getan, weil das Experiment mit sich selbst hier die idealsten Voraussetzungen findet.



Das Lied der Bahnhöfe, wo der Zug noch nicht eingetroffen…


In «Le Monde» las ich einen Artikel über die kanadische Autorin Naomi Klein, die im Buch «No Logo» die Sweatshops in den Ländern der Dritten Welt kritisch untersucht hat. Das Leben hat viele Punkte, an denen es sich manifestiert, und verschiedene Formen, in denen es in Erscheinung tritt. Zur Modernität gehört auch ein bestimmtes Gerechtigkeitsempfinden. Wie kann es mir gut gehen (wie in diesem Augenblick), wenn ich weiss, dass Menschen unter elenden Verhältnissen krüppeln, während ich mich mit mir selbst befasse?

Eine Öffnung im Leben

Es war ein Sonntagmorgen. Die ersten Gäste kamen für den Apéritif. Ich hatte nicht den Eindruck, dass sich unter ihnen viele Reisende mit einem bestimmten Ziel befanden. Wahrscheinlich genossen sie nur einfach die geheimnisvolle Unfertigkeit des Augenblicks, die in einem «Buffet de la Gare» erfahren werden kann.

Vor zwei Tagen hatte ich die Kathedrale von Laon besichtigt, gestern die von Reims. In einem Geschäft hatte ich eine Ausgabe der Streichquartette von Franz Schubert entdeckt und gekauft. Heute abend würde ich zu Hause ankommen (dachte ich weiter), den Computer anstellen, die eingegangene Post lesen (stellte ich mir vor) und eines der Quartette hören.

Jetzt aber sass ich beim Café au lait, bei einem Croissant und bei der Zeitungslektüre in einem etwas abgestandenen Buffet de la Gare in einem fremden, unbekannten Ort und wusste, dass dieser Augenblick vergehen würde wie alle anderen Augenblicke, und dass die Abfolge und Gesamtheit dieser auftretenden und auf der Stelle verschwindenden situativen Zustände (wie in diesem Augenblick, in dem mir das alles durch den Kopf ging) mein Leben ausmacht und es mir erst bewusst wird oder werden kann, wenn ich mich daran erinnere.

Wieso mir ausgerechnet in diesem Moment, in der Fortsetzung des Films meines Lebens, eine Reise einfiel, die ich einmal zu den schwindelerregend hoch auf Felsvorsprüngen gelegenen Burgen und Festungen des Languedoc gemacht hatte, in die sich die Katharer zum Schutz vor religiöser Verfolgung zurückgezogen haben? Vielleicht deshalb, weil Reisen kein Rückzug sind, sondern im Gegenteil eine Form der Öffnung und Offenheit.

Augenblick und Ewigkeit

Der Bahnhof, wo ich umstieg, war kein Ort zum Bleiben, egal wie er hiess und wo er lag. Durchgangsorte haben keinen bestimmten Charakter und bilden keine individuelle Örtlichkeit, sie verbinden nur zwei Punkte miteinander, aber diese zwei Orte sind selbst wieder ohne eigene Örtlichkeit. Es sind Markierungen auf einer Linie, die nirgends sichtbar ist. So fliesst alles dahin und nimmt das Leben allmählich einen immer eigentümlicheren Verlauf auf einer nie ganz ersichtlichen Bahn an.

Lebend und lebenslang hält man sich in einem Zwischenraum auf. Es gibt keinen Anfang und kein Ende. Das Leben ist ein vorläufiger, vorübergehender Zustand, wie die im Wartesaal verbrachte Zeit.

Genau aus diesem Grund kommt es so sehr darauf an, alles zu tun, um solche Wartezeiten und Stationen im Leben zu realisieren, wenn nötig zu inszenieren, und ist es so bewegend, die Magie des Vorläufigen auszukosten, wenn sich je eine Gelegenheit dazu bietet.

Gleich würde der Zug nach Strasbourg abfahren und das Leben wieder Tritt fassen und deutlich weitergehen. Das ist die Realität, manchmal unbehaglich, weil das einmal eintretende Ende der Reise nie ganz vergessen werden kann, manchmal Vertrauen erweckend, weil die Zeit des Verweilens so einmalig, so kostbar ist.

Es ist ein Kommen und Gehen, Erscheinen und Verschwinden, Auftauchen und Auflösen, und mitten drin, im flüchtigen Augenblick im Bahnhofbuffet an einem Ort, an den ich mich genau erinnere, aber von dem ich nicht mehr sagen kann, wie er hiess, ist das ganze Leben, die ganze Zeit, die ganze Ewigkeit enthalten.




…oder schon abgefahren ist.

Von Aurel Schmidt



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