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Artikel vom 03.07.2004

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Elsass - Kultur

Nimm mich nach dem Essen!

Die Kunsthalle Espace d'Art Contemporain Fernet-Branca in St-Louis erstaunt in vielerlei Hinsicht

Von Reinhardt Stumm



Italienischer Baukunst-Charme hinter den Gleisen der weltersten internationalen Eisenbahnlinie Basel-Strasbourg in St-Louis: Das Basler Baugeschäft Broggi und Appiani baute 1907 die Likörfabrik Fernet-Branca nach den Plänen des Mailänder Architekten G. Merlini. Alle Fotos von J.-P. Lienhard, Basel © 2004


ST-LOUIS.- St-Louis will auch kulturell aus dem Schatten Basels heraustreten - es leistet sich eine Kunsthalle, die in Rekordzeit verwirklicht wurde und zeitgenössische internationale Kunst in unsere französische Nachbarschaft im Elsass bringen will.

Bis vor vier Jahren wurde der 1845 vom Arzt und Kräuterdoktor Fernet erfundene und von den Fratelli Branca in Mailand zur Fabrikationsreife gebrachte Bitterlikör mit dem geheimen Rezept (40 Kräuter, Pflanzen und Gewürze, darunter Enzian, Safran, Kamille, Myrrhe, Holunder) auch in Saint-Louis produziert, an der Rue du Ballon Nummer 2, gleich hinter den Schienen (über den Bahndamm hinweg sieht man Mairie und Coupole), in jenem Haus, dessen auf der Weltkugel stehenden Kupferadler hierzulande jeder aufmerksame Elsass-Ausflügler kennt.

Der Adler wurde in Mailland hergestellt

Der Adler zierte an der Mailänder Weltausstellung von 1906 den Stand der Digestivo-Produzenten Branca, dann wussten sie nicht, wohin mit ihm - so kam er nach Saint-Louis und hockt auf dem Dach, seit nun bald hundert Jahren. Die adlige Besitzerfamilie Branca wollte ihren Bitterlikör nämlich auch in «Deutschland» herstellen, weshalb ihre Standortwahl auf das damals deutsch besetzte «Sankt Ludwig» fiel…

Vor vier Jahren also wurde der Betrieb eingestellt, in den weitläufigen Kellern mit den riesigen Eichenfässern wurde es zunehmend stiller, dann war Feierabend. Die Produktionsstätte, das riesige Haus darüber, stand leer. Und nun machen wir es nicht so spannend, inzwischen weiss jeder und nicht nur jeder aufmerksame Zeitgenosse, was passiert ist. Jean Ueberschlag, Député-Maire von Saint-Louis, mietete die Fabrik von den Besitzern, die zeigten sich überaus grosszügig. Jahresmietzins 1'500 Euro. Jahresmietzins!

Elitär, anspruchsvoll, beinahe makellos

Saint-Louis ist eine überaus lebendige Stadt, Jean Ueberschlag ein einfallsreicher Mensch. Inzwischen gibt es in der Grenzstadt Theaterfestwochen, musikalische Veranstaltungen von Rang, eine Buchmesse und Literaturfestival, Filmfestwochen und natürlich Kunst. Freilich nicht genug - was den Ehrgeiz betrifft. Aus der Likörfabrik wurde im Laufe von nicht einmal drei Monaten eine Espace d'Art Contemporain besonderen Zuschnitts: Elitär, anspruchsvoll, beinahe makellos. Die Einschränkung bezieht sich zum Beispiel auf feuerpolizeiliche Vorschriften, die falsche Blickfänge liefern - aber das sind Nebensachen.

Dass der grosse Innenhof leer, abweisend, mit sterilem, gebügeltem Teerboden unfreundlich und kalt aussieht, ist ein anderer Punkt. Lässt sich leicht in Richtung Grün und Leben ändern! Der Mann des Umbaus heisst Jean-Michel Wilmotte - Kenner kennen ihn. Das vom Mailänder Architekten G. Merlini entworfene und von der Basler Baufirma Broggi und Appiani 1907 errichtete Gebäude hat er mit seinem flexibel gestalteten Umbau aus denkmalpflegerischer Sicht geradezu unbeschadet gelassen.



Die schlanken Eisensäulen in der ehemaligen Abfüllerei der Likörfabrik stören nur den Fotografen, der eine raumfüllende Aufnahme machen will. Der Besucher kann aber seinen Standort so wählen, dass selbt grossflächige Bilder von den Eisenstangen nicht verdeckt werden.


Und wie! Die riesigen Produktionsräume von einst, alles in allem 1300 Quadratmeter gross, sind mit viel Fingerspitzengefühl so unterteilt, dass sich eine lange Reihe von ganz unterschiedlich grossen Kompartimenten bildete, die dazu reizen müssen, auf Punkt-Kontrapunkt (oder dialektisch, wenn man will) gestaltet zu werden. Alles von reinstem Weiss, die Decken mit den Energie- und Lüftungsleitungen verschwinden im Schwarzen - und jetzt, als erste Ausstellung in diesen neuen Sälen, die Arbeiten eines Koreaners, dem man gerade eben auch an der Art begegnen konnte:

Lee Ufan.

Ein Minimalist, dessen Tafelbilder sehr beschreibbar sind. Riesige Flächen, rein weiss wie die Wände, darin kleine Vierecke in verschwimmendem Grau. Meditationskunst, Bilder für Frage-Antwort-Spiele, Verlockung zu Grössenwahn, starke Trompe-l'oeil-Effekte (man glaubt manchmal, durch die Bilder hindurch die nackte Steinwand zu sehen), und - wie ich das mag! - alles das ohne kleinsten Anflug von Selbststilisierung oder angestrengter Frömmigkeit. Es gibt einen Katalog (25 Euro), es gibt ein (in Englisch) Buch aus der Hand des Malers, in dem wunderschöne Sätze stehen, Sätze, von denen einzelne hier und da an den weissen Wänden zu lesen sind.

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Die Fotos der Innenboxen zeigen deutlich die geschickte Farbgebung: Die Decke und die Lüftungsröhren, elektrischen oder Heizungsleitungen sind allesamt schwarz bemalt. Dieser «Kunstgriff» ermöglicht dem Auge, sich auf die Wände zu konzentrieren, ohne dass das Gewirr in der Decke verleugnet würde.


Lee (das ist sein Familienname) war selber zum Einrichten da, es war ein wundervolles Spiel, berichtete Guschti Vonville, der Kustos des Museums, der wie ein Schatzgräber in diesem Haus unterwegs ist, voller Pläne, voller Ideen und mit beneidenswertem Elan. Ein Mann, der auf wundervolle Weise imstande ist, zu erklären, was Nichts ist und weshalb es nichts wichtigeres als Nichts gibt. Und am Ende hat man es sogar verstanden. Wer müde ist, kann sich auf einen der weitgewanderten Steine setzen, die ihre Plätze märchenhaft still und schwer behaupten. Lee Ufan firmiert als Maler und Bildhauer.



Ein Triptichon von Lee Ufans - elektronisch aufgenommen und daher nicht im besten Licht… zwingt eigentlich zum selber hingegen und selber gucken!


Huusräuki und Vernissage waren Stelldichein der Prominenz, zu der selbstverständlich auch die Herren vom Pompidou in Paris gehörten. Zusammenarbeit ist erwünscht, wird sein, die Frage an die Ausstellungsmacher - wie geht das alles in Saint-Louis? - wird gelassen und lächelnd beantwortet: Wir haben Basel nebenan!

Lee Ufan bis 31.Oktober 2004.

Espace d'Art Contemporain Fernet-Branca, 2 rue du Ballon, F-68300 St-Louis. Tel. +33(0) 3 89 69 10 77. Täglich geöffnet, ausser Dienstags von 14 bis 19 Uhr. Eintritt: 7 Euro oder 5 Euro Vergünstigungstarif

Von Reinhardt Stumm

Für weitere Informationen klicken Sie hier:

• Besuchen Sie die Fotoreportage von J.-P. Lienhard

• Die Seite von St-Louis für die, die mehr wissen wollen

• Die stolze Familie Branca und ihre spannende Firmengeschichte

• Wer ist Reinhardt Stumm?


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