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Artikel vom 18.09.2006

Rubrikübergreifendes

Adieu Solange!

Sie gehört in die Reihe mit Albert Schweitzer

Von Jürg-Peter Lienhard



Etwas sehr ungewöhnlich im katholischen Sundgau: Kremation statt Beerdigung. Solange Fernex' Sarg wird nach der Leichenfeier zum reformierten Krematorium im ehemals calvinistischen Mülhausen transportiert. Alle Fotos: J.-P. Lienhard, Basel @ 2006


Weit über 300 Personen, Familienangehörige, Trauer- und Zaungäste, nahmen am Samstag, 16. September 2006, an der reformierten Abdankungsfeier von Solange Fernex-de Turckheim in der katholischen Pfarrkirche von Biederthal (Elsass) teil.



Solange Fernex-de Turckheim - aufgenommen am traditionellen Geissenfestlein vom 1. Mai 2006. (Mehr Fotos am Schluss.)


Die Abdankung mit anschliessender Kremation hatte Solange gemäss ihrer Schwiegertochter Agnèse selber und bis ins letzte Detail organisiert, jedoch nicht mit steifem Protokoll, sondern fast in jener fröhlichen Stimmung, mit der sie uns zum Abschied vor wenigen Wochen Ende August auf der Chrischona in der Sterbeklinik empfing.

Dieser Abschied war gar kein «Abschied», sondern sie funktionierte ihn kurzerhand in einen «Arbeitsbesuch» um. Es ging um das dumme Projekt «Bioscope», womit das oberelsässische Departement und der Regionalrat mit dem Segen der meisten seiner General- und Regionalräte 30 Millionen Euro und mehr in den Sand gesetzt - das heisst, in ein Naturgebiet hineinbetoniert hatten!

Sie kugelte sich vor Lachen über meine bitterböse und entsprechend illustrierte Reportage über diesen «Erlebnispark» aus Plastik (siehe Link am Schluss), und zwar so sehr, dass ich ob ihrer tödlichen Krankheit zweifelte. Immerhin wurde ich von Michel, ihrem Mann, belehrt, dass die modernen Medikamente, die sie zu sich nehmen musste, ihr die Schmerzen nahmen und sie sich lediglich an die Ruhezeiten halten musste, die ihr die Krankheit stets nach aufregenden Besuchen abverlangte.

Ich war ihr dankbar, dass sie mit ihrer bekannten quirligen Art jedes Mitleid im Keim erstickte und statt dessen munter drauflosparlierte in dieser ihrer so typischen Mischung aus Baseldeutsch, Welsch und dem «bläuen» Elsässerdytsch von Strassburg. Ich war aber auch fast neidisch, dass sie ihren «Termin» kannte, dass sie alles ordnen und regeln konnte, sich richtiggehend reisefertig machen durfte bei vollem Bewusstsein und in Erwartung der Erlösung. Ich empfand ihre Stimmung als Abschieds-«Geschenk», nein, es war ein Abschiedsgeschenk, und ich weiss, es war nicht nur eines an mich, sondern auch an die vielen, die sie in ihren letzten Tagen getrauten aufzusuchen oder sich zwangen, sie aufzusuchen.

Sie erzählte (und dies erstaunte mich nicht einmal, obwohl ich es gar nicht erwartete, aber ich freute mich um so mehr), dass sie alle ihre Erinnerungen aus den Anfängen der Beziehung mit ihrem Mann, aus den grossen Umweltschutz-Aktionen und aus der Zeit, als der minderjährige Marc Grodwohl bei ihnen Obdach genoss, nun in Briefen an ihren Mann Michel niederschrieb. Und Michel tat dasselbe, und sie lasen sich diese ihre Briefe gegenseitig vor. Denn Michel teilte mit ihr dasselbe Pflegezimmer im Sterbehospiz auf Sankt Chrischona. Es schien eine Wiedergeburt ihrer alten Liebe und ihrer langjährigen Partnerschaft zu sein, und es machte beide sichtbar glücklich im Angesicht des unvermeidlichen Abschieds. Dabei Zeuge gewesen zu sein - das beflügelte. Auf der Rückfahrt schämte ich mich kurz deswegen, bis ich begriff - das war Solange!

Vierzehn Tage später hatte ich einen schwereren Gang zu ihr, denn ich begleitete den kranken, enttäuschten und komplett angeschlagenen Marc Grodwohl auf die Chrischona. Es war ein Treffen von zwei Abschiednehmenden. Solange, die einen viel schwereren Abschied vor sich hatte, musste ich richtiggehend austricksen, damit ich sie mit dem verleumdeten und geknickten Marc Grodwohl allein lassen konnte.

Dann, als ich ihn nach gut einer Stunde abholen kam, erlebte ich wieder so einen Moment mit ihr. Im Sessel auf das Ende des nimmerendenwollenden tröstenden Abschiednehmens vom traurigen Marc wartend, schreckte mich ein kurzes Flattern aus meinen Gedanken, ein zweites Geflatter und ein drittes: Drei Vögelein kamen durchs offene Fenster des Krankenzimmers geflogen und taten sich an ein paar Brosamen von Solanges Kuchenresten aus Besuchergeschenken gütlich. Es war eine kaum zu glaubende Freude. Überrascht kam es ungebremst aus meinem Munde: «Franz von Assisi!» Und schon flatterten die frechen Spatzen (die aber Blaumeisen sein mussten) wieder aus dem Fenster - zurück blieb ein paar lange Augenblicke das Gefühl, einem Wunder beigewohnt zu haben!

Den Franz von Assisi zitierte dann an der Abdankung der eine der beiden Pfarrherren, Daniel Wohlfahrt von der französischen reformierten Kirche Basel, in seiner Predigt: Wie anders könnte man Solange symbolisch umschreiben? Der andere, der jüngere Pfarrherr, Christian Schluchter von Altkirch, überraschte mit Zitaten aus dem in der unmöglichen Zeit des Ersten Weltkrieges verfassten frühen Bekenntnis Albert Schweitzers mit dem Titel «Ehrfurcht vor dem Leben»: «Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.»

Dem CIA gelang es in den 60er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts den Friedensnobelpreisträger von 1956 und engagierten Atombomben-Gegner (er war auch Musiker, Musikwissenschafter, Theologe, Religionsforscher, insbesondere asiatischer und japanischer Religionen, und Arzt) als angeblichen «Handlanger des Kolonialismus» zu diskreditieren. Der schmutzigen US-Kampagne im Kalten Krieg gegen den Atomgegner krochen ausgerechnet die «von Moskau gesteuerten» Präpotenten der 68er-Generation auf den Leim; der «Urwalddoktor» als Philosoph und Ethiker wurde verleugnet und geriet in Vergessenheit.

Nicht bei Solange, einer geborenen de Turckheim, hugenottisch-reformiert, in der Tradition dieses noblen Adelsgeschlechtes gebildet und kultiviert, das sich noch heute stets nur mit «Turckheim» vorstellt. Nicht aus Understatement, sondern aus einem ungewöhnlich geschärften Bewusstsein gegenüber der Gesellschaft, der sie mit ihrem Vorsprung an Kultur und Bildung Vorbild zu sein suchen. Vorbild durch Engagement und Solidarität. Also eine ganz andere Noblesse, als die aus Privilegien des Adels entstandene: Die Noblesse der gelebten Ehrfurcht vor dem Leben!

Solange gehört in die Reihe mit Albert Schweitzer, der mit Sartre verwandt ist, die ihre Wurzeln im Elsass haben und zu den grössten Denkern des Abendlandes zählen. Der Hinweis in der Abdankung auf Albert Schweitzer kam sicher von Solange. Der Günspacher ist jedenfalls zu Unrecht in die Vergessenheit gedrängt worden - in der Öffentlichkeit sowieso, aber besonders bei den jungen Intellektuellen. Nur: Schweitzer fasziniert noch stets bei denjenigen, die Einblick haben; er wird auch wieder publiziert - eine grossartige Reihe seines erst vor ein paar Jahren in einem Schrank in Günspach aufgefundenen Vermächtnisses ist wieder im Druck erschienen. Herausgegeben von seinem kompetentesten Biographen, dem Schweizer Theologen Johann Zürcher. «Ehrfurcht vor dem Leben» von 1914 ist immer noch aktuell - aktueller denn je! Wer weiss denn von den «Philo-Studies» von heute, dass Schweitzer die Abdankungsrede für Friedrich Nietzsche hielt? Ausgerechnet Schweizter!

Darum gehörte Schweitzer in die Abdankungs-Predigt von Solange Fernex-de Turckheim, und vielleicht holen ihn die jungen «Ecolos», die sie «gezüchtet» hat, nun vom «Piedestal» herunter, wo man ihn «entsorgt» und damit entschärft (!) hat. Ein besseres Andenken an Solange und Albert Schweitzer liesse sich kaum noch wünschen!

Nicht oft hat eine Abdankungsfeier im Biederthaler Kirchlein Sankt Michel von 1912 so viele Menschen angelockt, und schon gar nicht so viel Prominenz aus Politik und Kultur der Dreiländerecke. Aus Basel kam Regierungsrat Guy Morin, Vorsteher des Justizdepartements Basel-Stadt, Nationalrat Ruedi Rechsteiner und alt Nationalrat Hansjörg Weder. Aus Frankreich die frühere Umweltministerin und jetzige Senatorin des Departementes Seine-Saint-Denis (Ile-de-France) Dominique Voynet von F-93100 Montreuil sous Bois im Dienstwagen, einem ockerfarbenen Citroën C6 (dem Flaggschiff der französischen Automobilindustrie), inklusive Chauffeur und mit dem staatlichen Abzeichen, der Trikolore, an der Windschutzscheibe sowie die Repräsentantin des Sous-Préfets von Altkirch, ebenfalls im Dienstwagen mit Chauffeur und Trikolore.

Unter den anderen, vielleicht weniger prominenten, jedoch um so engagierteren, sah man den Ofensetzer Pierre Spenlehauer, unübertroffener Aktivist für Kunst, handwerkliche Schönheit und wider tierischen Ernst, dann selbstverständlich auch in Begleitung seiner Gattin Béatrice Marc Grodwohl, der dem Elsass sein schönstes Werk geschenkt hat, nämlich das Ecomusée d‘Alsace, Antoine Wächter, der frühere französische Präsidentschaftskandidat der Grünen, Elisabeth Schulthess, die Biographin von Solange Fernex und Umweltaktivistin der ersten Stunde im Sundgau, eine ganze Menge kluger Köpfe aus Naturschützerkreisen, Biologen, Botanikern, Bio-Produzenten und Publizisten - die wundervollste Ansammlung von Menschen mit Herz und Verstand.

Den Trauermarsch vom Kirchlein am Geissberg zum Wohnhaus von Solange mit der Geissenscheune ihres Sohnes Etienne führten mit Michel Fernex an der Spitze die imposante Zahl von Kindern, Kindeskindern und Geschwistern von Solange an. Die Brigade Verte regelte mit einem augenfälligen Aufgebot den Verkehr; auf dem Feld hinter der Rebgasse musste ein grosser Parkplatz abgesteckt werden - nicht für die Grünen und Umweltaktivisten, denn die kamen zu Fuss von der Endstation des gelben Trams…

Auf die ganze riesengrosse Gesellschaft wartete dann hinter dem Haus der Reichs von Reichenstein mit der Saufeder im Wappen, der Trunk der «Lyycht» auf die Trauergäste. Es war schönes, warmes Spätsommerwetter - die schwarzen Wollschweine grunzten dazu, und die Ziegen meckerten keck, wie jeweils auch am Geissenfestlein am 1. Mai, an dem Solange dieses Jahr zum letzten Mal teilnahm und sich mit den Tieren des Hofes und mit den Leuten freute!

Die Fotos von der Abdankung
Alle Aufnahmen: J.-P. Lienhard, Basel @ 2006




In der Kirche hatte es keinen Platz mehr.




Wer zu spät kam, musste mit Stehplätzen vorlieb nehmen.




Basler Politker: Regierungsrat Guy Morin (Grüne) und Nationalrat Ruedi Rechsteiner (SP).




Die Mädchen warten auf ihren Einsatz: Kollekte




Letztes Innehalten der Trauerfamilie vor dem Abtransport des Sarges.




Etienne Fernex mit Pastor Christian Schluchter, der Schweitzer zitierte.




Der endlose Trauermarsch zum Heim von Solange.




Ein Fan der ehemaligen Umweltministerin im Gespräch mit Dominique Voynet.




Marc Grodwohl im Gespräch mit Antoine Wächter.




Adieu Solange!



• Todesanzeige der Trauerfamilien, abrufbar unter dieser URL: http://www.webjournal.ch/uploads/pdf/1158539718.pdf

Von Jürg-Peter Lienhard

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