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Artikel vom 25.03.2005

Basel- Kultur

Ein Rebell wird 80

Pierre Boulez zum Geburtstag am 26. März 2005: Er hat die Musikwelt des 20. Jahrhunderts neu aufgemischt, was wohl auch über das 21. Jahrhundert ausstrahlen wird…

Von Jürg-Peter Lienhard



Charmant, aufmerksam, gescheit und bescheiden: Pierre Boulez in privatem Rahmen. Alle Fotos: J.-P. Lienhard, Basel © 2005



Die einen lassen sich einen Bart wachsen, die anderen tragen eine Arbeitermütze - das darf sich leisten, wer «ganz oben angekommen ist». Zum Beispiel Pierre Boulez, der nie in seinem achtzigjährigen Leben einen Hut getragen, sondern immer eine Mütze auf hatte, die er bequem in die Tasche verstecken kann, und sie damit nicht vergisst. So jedenfalls causierte der weltberühmte Dirigent und Komponist kürzlich im Basler Restaurant «zum Schlüssel» mit Freunden und Studenten.

Er isst nicht gerne allein - da diesbezüglich ganz Franzose -, und so war es für mich mal Gelegenheit den umstrittensten und gleichzeitig bestgelobten Musiker des Abendlandes mal ganz privat kennenzulernen. Die Furcht, einen unerbittlich gestrengen Maestro, wie ich ihn aus den Diskussionen von «France Musique» kenne, erleben zu müssen, erwies sich als gänzlich unbegründet. Boulez hält nichts von Ehrerbietung; er kam rein, schüttelte ganz unprotokollmässig die Hände der Gäste der Reihe nach von zuvorderst bis zuhinterst. Und bat mit sympathischer Geste so rasch zu Tisch, wie er seine Musiker zum Einsatz bittet.

Wir liessen bei der Tafelordnung einem Studentenpaar der Musikhochschule den Vortritt; Boulez‘ Musik ist nur so gut, wie sie vermittelt wird. Und wer anders als Boulez selbst ist dazu in bester Lage, Musikstudenten auf den Sprung zu helfen? Er gab den beiden ganz präzise und wohl auch erschöpfende Antworten. Er gab sich überhaupt nicht als Star oder als ungeduldiger Besserwisser, sondern ziemlich familiär, obwohl hochkultiviert. Die Frage, ob ich fotografieren darf, beantwortete er nicht mit «ja», sondern mit «selbstverständlich» und harrte mit grosser Geduld den Anweisungen zum Gruppenbild…



Gruppenbild mit Pierre Boulez (mit Arbeitermütze), Diener Hans (ganz links mit Taschen) , Studentinnen und Studenten sowie Freund J.-P. Lienhard (mit italienischem Designer-Hut) vor dem Restaurant Schlüssel in Basel. Foto J.-P. Lienhard, Basel © 2005



Mit sichtlichem Insiderverständnis liess er sich erzählen, dass er an der Fasnacht Gegenstand eines Schnitzelbank-Refrains war und quittierte den Anlass - nämlich im Hotel «Drei Könige» von der Polizei wegen angeblicher Drohung («Man sollte die Opernhäuser in die Luft sprengen») als «gefährlicher Ausländer» kontrolliert worden zu sein - lediglich mit einem süffisanten Lächeln; der mickrige Blumenstrauss, den die Polizei beim darauffolgenden Konzert als Entschuldigung von einer dazu verknurrten Beamtin überbringen liess, war ihm bescheidenerweise auch keinen Kommentar wert. Dafür kicherte die ganze Runde…

Boulez hat traditionellerweise zu Basel eine enge Beziehung, die in der Vergangenheit, nämlich zu Lebzeiten von Paul Sacher, verständlicherweise intensiver war. Unvergesslich war jedoch für die damaligen Teilnehmer und deren gespannte Zuhörer die beiden Dirigentenkurse, die Boulez in den sechziger Jahren in Basel gab. Sacher finanzierte die Kurse im Rahmen seines Engagements bei der IGNM.



Geburtstagskind Boulez mit Arbeitermütze, die sich in die Manteltasche stecken und daher nicht vergessen lässt… Foto J.-P. Lienhard, Basel © 2005



Sacher war denn auch sein grösster Förderer, sein intimster Freund. Wer bei der Abdankung an Sachers Beerdigung im Basler Münster dabei war, dem bleibt der bewegte Moment in Erinnerung, als Boulez stockend und unter Tränen seine Abschiedsworte hielt. Mit den Werken Boulez, seinen sämtlichen Partituren, Handschriften und Korrespondenzen, hat die Paul-Sacher-Stiftung neben dem Strawinsky-Archiv und Dokumente weiterer Zeitgenossen Boulez‘ die umfassendste Musikaliensammlung der neueren Musik des 20. und 21. Jahrhunderts aufgebaut. Boulez‘ Dokumente verleihen neben der grossartigen Strawinsky-Sammmlung der Stiftung einen abgöttischen Glanz!

Den Kompositionen Boulez‘ widmen sich auf der ganzen Welt die bedeutendsten Musikwissenschafter; die Paul-Sacher-Stiftung leistet sich gar eine ganze Abteilung… Während die Modernität der Boulez‘schen Kompositionen nicht immer bei den Musikkonsumenten Gefallen findet, ist der Dirigent Boulez der unbestrittenste Maestro für Interpreten und Orchestermitglieder: Die Orchesterführung ist bei Boulez derart präzise, dass sich die Musiker absolut auf ihn verlassen können. Keine schwafligen Bewegungen, keine hollywoodschen Show-Emotionen wie bei Bernstein und keine militärische Grossartigkeit wie bei Karajan.



Der Musikwissenschafter Leonard Stein (✝) und Schönberg-Spezialist gehörte zum Freundeskreis von Boulez: Hier in Basel in privatem Kreis unter einer «Hommage an Boulez». Foto J.-P. Lienhard, Basel © 2005



Das erste, was Boulez in seinen Dirigentenkursen den angehenden Maestros beibrachte, war: «Ein Konzert kann zwei Stunden dauern!» Darum sollte die Kraft effizient eingesetzt werden; kein ausholendes Fuchteln mit den Armen, dafür präzise Schläge. Ein Blick oder ein Kopfnicken genügt, die Musiker lernen diese Zeichensprache gerne, zumal sie spüren, dass sie geführt werden. Boulez verwendet auch keine «Baguette». Nicht, weil sie für ihn «zu teuer ist», wie er mal scherzend sagte, sondern weil sein Arm derart präzise arbeitet.

Als er im Basler Stadttheater zum Jubiläum 100 Jahre Roche sein eigenes Orchester dirigierte, waren vom Zuschauerraum aus seine Arme kaum zu sehen, und dennoch dirigierte er seine für diesen Anlass geschriebene hochkomplexe Kompostion, die enormes Schlagzeug enthielt, wie ein Schweizer Chronograph.



Pierre Boulez (vorne rechts), Christoph Schlingensief und Robert Holl (Gurnemanz) im Gespräch während der «Parzifal»-Inszenierung 2004 in Bayreuth. Foto J.-P. Lienhard, Basel © 2005



Daher sind Fernsehaufnahmen mit Boulez am Dirigentenpult äusserst ärgerlich, ja auch eine Zumutung: Will man nun beobachten, wie Boulez diesen oder jenen Einsatz gibt - schwupp - blendet der taube und blinde Regisseur auf einen glänzenden Trompetentrichter oder auf die Robe einer Geigerin. Dabei ist der Blick auf den Dirigenten - zumal auf Boulez - die wichtigste Einstellung gerade für den Fernsehzuschauer.

Kritiker werfen Boulez vor, gerade diese Präzision beim Dirigieren, wirke kühl-distanziert und werde daher den Emotionen des Werkes, zumal bei Mahler, nicht gerecht. Manchmal denke ich mir bei solchen Kritikern, dass die ja ihr Blatt füllen müssen und darum gezwungen sind, solchen Quatsch zu schreiben. Man höre sich nur solches Geschwätz in der «Diskothek auf Zwei» an, wo sich mal der eine oder andere Taube darin überbietet, wer das Gras lauter wachsen höre…



Noch kein Jahr ist vergangen (März 2005), und schon hat die Aufnahme von Boulez' Orchestrierung des «Parzifal» 2004 von Bayreuth Kultstatus: CD-Hülle der Deutschen Grammophon-Gesellschaft. Foto J.-P. Lienhard, Basel © 2005



Immerhin gibt es Leute, die sind ganz verrückt danach, Boulez wo auch immer dirigieren zu sehen - verständlicherweise. Und dann ist der auch noch ein gradliniger Typ: Nachdem er mit Christoph Schlingensief an den letztjährigen (2004) Bayreuther Festspielen mit «Parzifal» äusserst erfolgreich zusammengearbeitet hatte und von der Kritik mit grösstem Lob überhäuft wurde, hat Boulez sich zivilcouragiert gegen den Rausschmiss Schlingensiefs in Bayreuth gestellt.

Niemand hat das französische Musikleben nach dem Zweiten Weltkrieg so geprägt wie Pierre Boulez. Als Schüler Olivier Messiaens behauptete er den hohen Anspruch der Moderne; zusammen mit Karlheinz Stockhausen und Luigi Nono bildete er das Darmstädter Dreigestirn, das das öffentliche Interesse für mehrere Jahrzehnte auf sich zog.



Pierre Boulez plaudert am Mittagstisch aus, dass er bei Jacques Tati's «Monsieur Hulot» nichts Humoriges ausmachen kann. Wer ihn besser kennt, weiss, dass Boulez ganz gerne mit seinem Undestatement zu provozieren versteht - seine Art von Humor… Foto J.-P. Lienhard, Basel © 2005



Mit provozierenden Thesen polarisierte Boulez immer wieder die kulturelle Diskussion, als Dirigent, Operndirektor und Musikmanager setzte er Masstäbe und schuf die Infrastruktur des Pariser Musiklebens. Der Komponist Pierre Boulez erfand eine Reihe beeindruckender Werke und fundamentale, aber dennoch ständig wuchernde, also nicht vollendbare Musik.

Wie Sie sicher jetzt festgestellt haben, bin ich kein Musikwissenschafter, sondern ein engagierter Musikliebhaber, dessen Liebhaberei nicht im vergangenen oder im 19. Jahrhundert stehengeblieben ist. Ich erhebe keinen Anspruch auf Musikjournalismus, weil mir das Vokabular zu wenig geläufig ist. Das überlasse ich gerne anderen, berufeneren Kollegen aus dem eigentlichen Musikfach: das finden Sie in den nachfolgenden Links. Aber zum 80. Geburtstag gratulieren wollte ich Pierre Boulez doch - und zwar so, wie ich ihn kennengelernt habe!

Programmtips am Fernsehen:

1. Das ARTE Magazin
ARTE Schwerpunkt «Pierre Boulez»

Pierre Boulez: Auf der Suche nach der Zukunft
Samstag, 26. März 2005, 22.30 Uhr

Pierre Boulez dirigiert Mahler: 2. Sinfonie
Sonntag, 27. März 2005, 19.00 Uhr

2. SÜDWEST Fernsehen zum 80. Geburtstag von Pierre Boulez

Samstag, 26. März 2005, 8.45 Uhr
Boulez in Bayreuth
Ein Film von Barrie Gavin und Dietrich Mack

Samstag, 26. März 2005, 9.20 Uhr
Ludwig van Beethoven: Sinfonie Nr. 3 Es-Dur "Eroica"
Dirigent: Pierre Boulez
Erstsendung: 31.12.1962



Von Jürg-Peter Lienhard

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