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Artikel vom 29.10.2007

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Vor dem Eindunkeln

Die Vermarktung der Denker und Dichter ist die Vorstufe zur Trivialisierung der abendländischen Zivilisation - die Kultur wird zunehmend abgewertet und ihres Sinnes beraubt, zumal seit 1995 durch EU-Recht …

Von Martin Zingg

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Wer Martin Luther war, wissen viele Menschen. Auch, wer Theodor Fontane war. Ganz zu schweigen von Johann Wolfgang Goethe. Die drei Herren sind so bekannt, dass es keine Rolle spielt, wann sie genau gelebt haben und wofür sie eigentlich bekannt sind…

Martin Luther ist der deutsche Reformator; einige wissen immerhin auch: der Bibelübersetzer. Wer im Gespräch einen deftigen Spruch riskieren will, darf sich in vielen Fällen auf ihn berufen.

Fontane ist der Jüngste in der Runde, aber dass etwas ein «weites Feld» sei, darf auch seufzend beklagen, wer nicht so genau weiss, dass es der Autor von «Effi Briest» war, der diese Wendung einer Figur in den Mund gelegt hat.

Und über Goethe braucht man nicht viel zu wissen, um ihn schon immer gekannt zu haben. «Werther» zum Beispiel, «Prometheus», «Über allen Gipfeln ist Ruh...». Goethe fehlt in keinem Lesebuch, zahllose geflügelte Worte aus seinem Werk, nicht zuletzt aus dem «Faust 1», sind heute Allgemeingut. Goethe ist eine der Portalfiguren unserer Kultur; es muss ihn niemand interessant finden oder gar sympathisch, er braucht auch gar nicht mehr intensiv gelesen oder inszeniert zu werden - Goethe ist vor allem Goethe.

Werbefachleute und Unternehmer sehen das anders: Goethe ist vor allem ein gut eingeführter Name. Wie Fontane oder Luther auch. Vor ein paar Jahren hatte ein Martin Luther – nein, nicht aus Wittenberg, sondern aus einem Dorf in der Nähe von Dresden – den Einfall, beim Deutschen Patentamt in München seinen Namen als Marke anzumelden…

In ganz Deutschland hält er nun das Recht auf den Markennamen «Martin Luther», allerdings nur in «Warenklassen» wie Getränke und einigen Fleisch- und Fischprodukten sowie bei Immobilien- und Versicherungsgeschäften.

Ein anderer Unternehmer besitzt seit einigen Jahren die «Martin Luther»-Rechte im Bereich Tourismus. Wer in Deutschland «Luther-Touren» anbietet, zahlt Lizenzgebühren an Franz-Martin Heder. Dieser war schlau genug, sich rechtzeitig noch vor dem einträglichen Fontante-Jahr den Markennamen «Theodor Fontane» zu sichern, wobei leider für einige Warenklassen der Name schon vergeben war.

Ingeborg Fontane, übrigens Urenkelin und letzte direkte Nachkomme des Dichters, brachte aus Altersgründen nicht mehr die Energie auf, sich gegen die Nutzung ihres Namens zu wehren.

1999 war - vielleicht wissen Sie es noch? - ein Goethejahr; der 250. Geburtstag des Dichters. Ein Unternehmer aus Gelsenkirchen hatte sich 1995 die Rechte am Namen «Johann Wolfgang von Goethe» auf «Papierwaren aller Art» gesichert und versucht seither, Lizenzgebühren zu kassieren.

Als er auch von der «Öffentlich-rechtlichen Stiftung Weimarer Klassik» Lizenzgebühren verlangte, klagte diese, aber das Gericht anerkannte deren älteren Rechte an Goethe im Zusammenhang mit «Papierwaren aller Art». Um vor weiteren Nachstellungen sicher zu sein, musste sich die Stiftung die Namen Schiller, Nietzsche, Herder, Liszt etc. sichern.

Möglich ist sowas seit 1995. Seit diesem Jahr gilt in Deutschland das EU-Markenrecht, und weil so viele Namen aus Dichtung, Musik und Kunst im werbetechnischen Sinn so gut eingeführt sind, dass man sie kommerziell bequem bewirtschaften kann, werden sie immer öfter privat genutzt - die hier genannten Beispiele stehen für viele andere.


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Ist das nicht alles eher befremdlich? Die Mühe, die man mit solchen Vorgängen haben kann, beginnt damit, dass sie einen bald nicht mehr überraschen können. Und trotzdem: Seltsam ist doch zunächst einmal die Tatsache, dass ein Patentamt bekannte Namen von längst verstorbenen Dichtern und Denkern überhaupt einer privaten Nutzung überlassen kann!

Merkwürdig ist sodann, wie lau die Reaktionen auf diese Entwicklung bisher ausgefallen sind. Und erstaunen muss schliesslich, wie leicht sich Namen von den Leistungen abkoppeln lassen, denen sie ursprünglich ihre überregionale und überzeitliche Bedeutung und Bekanntheit verdanken.

Die Bezeichnung «Fontane Tourismus Service» etwa, die sich ein österreichischer Geschäftsmann hat einfallen und patentieren lassen, führt das anschaulich vor: genau besehen ist das blanker Unsinn. Der Firmenname erinnert nicht im entferntesten an irgendetwas Literarisches; der Patentinhaber schöpft ohne eigenes Zutun einen anderswo und über lange Zeit entstandenen und gewachsenen Wert und macht wie nebenbei den Namen des Autors zum Wechselbalg.

Auch der Name «Johann Wolfgang von Goethe» steht zuallererst für ein immenses und bedeutendes literarisches Werk, und sieht man von besonderen, wissenschaftlich erarbeiteten Ausgaben ab, ist dieses Werk zusammen mit dem Namen seines Schöpfers ein allgemeines Gut. Es gehört allen, die damit umgehen wollen; wer das Werk und den Namen seines Urhebers in irgendeiner Weise «nutzt», schuldet niemandem etwas, am wenigsten Geld.


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Was hat das alles mit Literatur oder gar mit Kultur zu tun? Der Einwand liegt nahe, dass das Wesentliche, das literarische Werk nämlich, von solchen Umständen nicht berührt werde. Und: immerhin seien es literarische Klassiker, auf die zurückgegriffen werde.

Ist es nicht denkbar, dass jemand auch mal nach einem Buch eines zu Werbezwecken missbrauchten Dichters greift? Fontanes Romane und Gedichte sind ja alle lieferbar, in verschiedensten Ausgaben und Preisklassen - was will man denn mehr?

Die «Fontane-Limonade» braucht kein Mensch zu trinken, man kann sowas amüsiert als eine Reverenz an den Autor auffassen oder schlicht ignorieren, in der Gewissheit, dass durch solche Auswüchse nicht angetastet werden kann, was die Substanz des Werkes ausmacht. Und dennoch: Die Privatisierung von Namen, die ihre «öffentliche Bedeutung» im Zusammenhang mit einer bestimmten Tat oder einem Werk erlangt haben, deklariert auf vertrackte Weise auch das mit dem Namen ursprünglich Verbundene zum «herrenlosen Gut» - zumindest im ökonomischen Sinn.

In einem anderen Sinn wiederum, im kulturellen Kontext, wird einer Gesellschaft tendenziell etwas entzogen, wenn Kulturgüter, wie auch immer diese beschaffen sein mögen, unmittelbar mit dem oben skizzierten Renditedenken verknüpft und gleichsam verramscht werden.

Zwar ändert die Kommerzialisierung des Namens «Fontane» kein Komma am «Stechlin» oder an «Irrungen Wirrungen», aber sie droht das Werk dennoch zu überlagern und auszuhöhlen, am Ende gar wegzublenden. Beschädigt wird ein «öffentliches Gut», und die Frage ist, ob das, was ökonomisch und juristisch offensichtlich möglich ist, auch kulturell erträglich und erlaubt sei.

Dem Patentinhaber, das nur nebenbei, winkt ein Gewinn, der durchaus über den Honoraren liegen könnte, die der Namensgeber für seine Arbeit je hat kassieren dürfen - eigentlich müsste man von diesem Gewinn etwas abzweigen für die heute Schreibenden, zum Beispiel als Altersrente.


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In einem weiten Sinn ist Kultur so etwas wie ein Selbstbild, das eine Gesellschaft von sich entwirft: für sich selbst so gut wie für andere. In dieser Bedeutung schliesst Kultur vieles ein, etwa die Art, wie gelebt, gearbeitet und gefeiert wird, wie die Menschen miteinander umgehen etc.

Kultur ist also mehr als bloss das, was sich der Natur entgegensetzen lässt. Und sie ist auch nicht auf das zu reduzieren, was die Identität einer Gesellschaft ausmacht. Aber sie stiftet die kollektive Spannung, in welcher Kunst geschaffen werden kann. Und die Kunst (die Kultur in einem eng gefassten Sinn) wiederum fordert die Kultur heraus.

Kulturelle Erfahrung, darin liegt ihre gesellschaftliche Bedeutung, schafft Zusammengehörigkeiten, sie kann neue Gemeinschaften begründen und bereits bestehende bestärken. Mit all denen, die das gleiche empfinden, verbindet die gemeinsame kulturelle Erfahrung, von anderen kann sie trennen - das verweist auf die Tatsache, dass ein Kunstwerk eine individuelle Setzung ist, auf die wir individuell reagieren.

Die kulturelle Erfahrung bewährt sich auch an Kunstwerken: Durch die Art, wie sie damit umgeht und diese immer wieder neu befragt; nicht selten erscheinen ältere Kunstwerke nur darum nicht mehr so interessant, weil ihnen schon lange nicht mehr neuere Fragen gestellt worden sind.

So gesehen, so genutzt, können Kunstwerke auch das Gedächtnis einer Gesellschaft sein. Nicht als Datenspeicher oder Leitfossil, sondern als permanenter und unabweisbarer Hinweis auf noch ungenutzte Möglichkeiten, die wahrzunehmen bisher versäumt wurde.

Das heisst: Kultur beobachtet die Gesellschaft und widerspricht ihr. Konventionell gewordene, vertraute Kunstwerke wirken in diesem Sinne weiter - sie müssen folglich ungehindert und unverstellt zugänglich sein. Darum sollte es eine Art «kultureller Allmende» geben, auf welcher kulturelle Werke davor geschützt sind, als beliebiges Gut und privat sprudelnde Ressource missbraucht zu werden.


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Die Ausbeutung kulturhistorisch bedeutsamer Werke wird in nächster Zeit wohl zunehmen. Beethovens «Ode an die Freude» erklingt inzwischen auch für die Nippon Telegraph und Telephone Corporation. Einige Profiteure nehmen sich, was sie brauchen, gleich selber: Michael Jackson und der Boxer Henry Maske bedienten sich bei ihren Auftritten der Musik aus Carl Orffs «Carmina Burana»; von diesem Werk, heisst es, kursieren derzeit im Internet über vierhundertachtzig unlizenzierte Versionen.

Und die gibt es nicht, weil da einige kulturelle Wohltäter ein besonders einprägsames Musikstück bekannt machen möchten. Das sind jedesmal Privatisierungsversuche, jedesmal im Wissen, dass die Nutzung gegenwärtig – und im Fall Orff noch bis zum Jahr 2052, d.h. während siebzig Jahren nach dem Tod des Komponisten – durch das Urheberrecht geregelt ist.

Die Frage, wie sich Gemein- und Individualinteresse im kulturellen Bereich gegeneinander abwägen lassen, wird sich in Zukunft immer häufiger stellen. Digitalisiertes Eigentum wird auch andere, neue Sorgen stiften, denn es ist anzunehmen, dass die Digitaltechnologie unter anderem auch die Eigentumsvorstellungen und den Kulturbegriff verändern wird.

Noch sind wir nicht so weit. Vorläufig erfolgt der Raubzug auf die kulturelle Allmende im literarischen Bereich noch von zwei Seiten her, sozusagen im Klammergriff. Auf der einen Seite Privatisierung von Namen, auf der anderen Seite handfeste Reprivatisierung von Kulturgütern.

Das wohl spektakulärste, merkwürdigerweise kaum diskutierte Beispiel stammt aus Weimar, der Stadt Goethes und im Jahr 1999 Kulturhauptstadt Europas. Nacherzählen lässt sich der Vorgang etwa so: Goethes Enkel Walther Wolfgang vermachte im Jahr 1885 den Nachlass seines Grossvaters der Grossherzogin Sophie. Diese, inzwischen auch mit dem Schillerschen Nachlass bedacht, gründete 1893 das Goethe- und Schiller-Archiv und liess dafür ein schönes Haus errichten. Aus dieser Einrichtung, die in der DDR-Zeit ausgebaut wurde, ist 1990 die oben erwähnte Stiftung Weimarer Klassik hervorgegangen.

1924, nach dem Tod der Grossfürstin und ihres Erben, war der Schatz einer Verwaltungsgemeinschaft unterstellt worden, der das neu gegründete Land Thüringen, die fürstliche Schatullverwaltung und die Goethe-Gesellschaft angehörten. Den Zweiten Weltkrieg hatte das Archiv beinahe unversehrt überstanden, als im Mai 1947 der thüringische Landtag - und nicht etwa die sowjetische Besatzungsmacht - beschloss, das Goethe- und Schiller-Archiv zu einer Stiftung des «öffentlichen Rechts» zu machen - noch vor der deutschen Teilung und mit der Zustimmung des früheren Erbgrossherzogs Wilhelm Ernst Carl August von Sachsen.

Seit 1995 erhebt nun der Erbprinz des einstigen Grossherzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach Anspruch auf die im Goethe-und Schiller-Archiv aufbewahrten Autographen. Er will sogar die Dichtersarkophage, die in der Weimarer Fürstengruft liegen. Michael Benedict Prinz von Sachsen-Weimar und Eisenach klagt nicht für sich, sondern für seine Tochter, die zwölfjährige Prinzessin Leonie. Und er meint beschwichtigend, die Forschung dürfe auch weiterhin tun, was sie bisher getan hat: den Schatz auswerten und pflegen (und damit auch, wie nebenbei: dessen Wert vermehren).

Bloss: Was bislang als Allgemeingut galt, erhält die Allgemeinheit jetzt leihweise und auf Widerruf zur Einsichtnahme. Da hilft auch der Hinweis nicht, dass die Texte alle greifbar sind. Zum Vergleich: Die «Mona Lisa» lässt sich getreu reproduzieren, so gut, dass das Original von der Kopie nicht mehr zu unterscheiden ist, und trotzdem war es bisher nicht nötig, das Original privat zu verscherbeln ...

Den klagenden Erben wurde übrigens inzwischen der Anspruch auf grosse Teile des Archivs bestätigt.

Das ist ein Extremfall, zugegeben, so einmalig, wie Goethe einmalig ist - aber es ist zugleich ein Lehrbeispiel, wie eine Kultur mit Erzeugnissen umgeht, in denen sie sich angeblich so gerne wiedererkennt.

Der Extremfall macht jedoch nur die Regel deutlich: öffentliches Kulturgut wird zur kommerziellen Plünderung freigegeben, und mit ihm auch die Botschaften, Hoffnungen, Wünsche, Ängste vieler Epochen, die in diesen Werken ihren Niederschlag gefunden und unsere Kultur geprägt haben. Als müssten durch raschen Ausverkauf alte Ressourcen erst trockengelegt und dann weggeschafft werden. So lange, bis niemand mehr Luther, Fontane und Goethe kennt.

Von Martin Zingg


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