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Artikel vom 26.07.2004

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Theater

Tell 04 - Joint Venture

Hingehen oder nicht hingehen?

Reinhardt Stumm stellt die Frage zu den Rütli-Tellspielen und beantwortet sie gleich selbst

Von Reinhardt Stumm



Betörend schöne Bergwelt: Sie allein lohnt schon den Besuch der Tellfestspiele auf dem Rütli, meint der Theaterkritiker Reinhardt Stumm, der exklusiv für das webjournal.ch die Premiere des Freilichttheaters besuchte. Die Wiese rechts unten im Bild kann nur per Schiff oder allenfalls zu Fuss erreicht werden. Alle Fotos vom Veranstalter © Milan Schijatschki

1804 wurde Wilhelm Tell von Friedrich Schiller im Weimarer Theater uraufgeführt. Regie führte Johann Wolfgang von Goethe. Zweihundert Jahre später kommt das Weimarer Theater mit dem Tell, der inzwischen zum Gründungsstück der Eidgenossenschaft wurde, aufs Rütli. Bis 29. August spielt die Weimarer Truppe, um wenige Gäste vermehrt, die Inszenierung von Stephan Märki. Die Produktion verantwortet Lukas Leuenberger, Bundesrat Christoph Blocher hält die Hand darüber - mit einer Defizitgarantie.

Wie war es? Lohnt es sich? Muss man hin oder nicht? Das lässt sich gar nicht so leicht beantworten. Die Überfahrt von Brunnen zum Rütli in den frühen Abendstunden ist ein kurzes, aber schönes Erlebnis. Wer früh genug drüben ist, kann unterhalb der Spielfläche auf der Wiese seinen Wein trinken, den See und die Berge bestaunen und später die langen und bunten Kolonnen der Zuschauer, die den Weg von der Schifflände zu den Tribünen hinaufgehen. Günther Ueckers schwere Baumstamm-Dreibeine - an jedem hängt ein massiger Felsklotz - stehen imponierend da, gliedern und bilden die Spielfläche, das sieht stark aus. Die Riesentribüne sprengt jedes Mass, sie ist angsteinflössend - natürlich hält sie die Zuschauermengen aus, trotzdem phantasiert jeder irgendwann daran herum, was passieren würde, wenn sie zusammenkrachte. All dies zusammen und dann noch die Geschichte dazu: Ein emotional hochbesetztes Gelände.



Die primitive Berglandschaft am Vierwaldstättersee ist auch heute noch die ideale Kulisse für düstere Geschichten wie der (erfundenen) Sage vom Wilhelm Tell und dem subalternen habsburgischen Beamten Gessler. Das Pünktchen im Nebel ist ein Helikopter, der einen der riesigen Baumstämme (das Strichlein darunter) für das «Bühnenbild» auf die Rütliwiese transportiert.

Die Spielfläche - die ganz links bis auf das Dach eines flachen Holzhauses reicht -, misst von Rand zu Rand gern ihre 120 Meter. Die Schauspieler haben einiges zu laufen. Bertha von Bruneck im zartblauen Reifrock huscht über die Wiese wie eine Elfenkönigin, Tells Eheweib Hedwig erinnert an Schankwirtinnen in amerikanischen Westernsaloons, der alte Attinghausen (Walo Lüönd) vergräbt sich in den ersten Minuten in einen Uecker-Baum, da sitzt er und da bleibt er, bis er stirbt, man sieht nichts und hört so gut wie nichts von ihm. Über die grösste Breite hinweg schiesst Tell den Apfel vom Haupt des munteren Walter, da ist der Flug des Pfeils ein kurzes Rauschen aus den Lautsprechern.



Eine Seefahrt, die ist lustig, eine Seefahrt, die ist schön…immerhin ist die Fahrt zur Rütliwiese für den Besuch der Tell-Festspiele inbegriffen - anders kommt man nämlich gar nicht hin.

Dass Intimität auf diese Weise nicht zu erreichen ist, wissen die Theaterleute auch. Sie versuchen zum Beispiel gar nicht erst, den Unterschied von - sozusagen - öffentlicher und privater Rede erkennbar zu machen. Stattdessen streben sie eine Redeweise an, die sich eigentlich nur als gekünstelt, als hochgradig maniriert bezeichnen lässt. Eine Art schnalzender, lauter Flüsterton, der die ganzen anderthalb Stunden kaum je abreisst.



So siehts dann aus, wenn man endlich zu Fuss die Rütli-Wiese erklommen hat: Das «Bühnenbild» von Günther Uecker ist martialisch, wirkt wie eine Versammlung von Panzersperren, oder mahnt vielleicht gar an das Stachelschwein, mit dem der Gnom Adolf die Schweiz zu titulieren beliebte?

Was entsteht, ist eigentlich paradox. Gespielt wird die Handlung - die Rütli-Textfassung verzichtet auf viele Phasen der Reflexion, des Nachdenkens. Dafür wird aber nun die Handlung gespielt, als sei sie reines Nachdenken. Das ist nicht immer ganz einfach zu verstehen (in jedem Sinne des Wortes). Oft weiss man auch nicht, wer jetzt eigentlich mit wem spricht. Die Microports (die kleinen Mikrophone an den Hemdkragen oder am Hals) machen es den Spielern leicht, sie können auf den markierenden Gestus verzichten, der das Theater der Griechen und Römer auszeichnete. Bei ihnen musste erkennbar bleiben, wer, zudem unter unbeweglichen Larven, die Rede hat, dementsprechend wurden erkennbare Sprech-Haltungen ausgebildet.



Szenenbild mit der Familie Tell; die ganze Handlung spielt in dem «Bühnenbild» mit den dicken Baumstämmen und den schweren Felsbrocken.

Psychologisch durchgestaltete Spielweisen sind so und bei der Distanz gar nicht möglich, was wiederum heisst, dass die Schauspieler mehr oder weniger ununterscheidbar sind. Was wiederum heisst, dass die gepriesenen Stars der Aufführung (Roland Koch als Tell und Thomas Thieme als Gessler) gar nicht zeigen können, was sie können, dass sie also weit unter ihrem Wert auftreten. Das sind wirklich, nach meinem Verständnis, die Tücken des Freilichttheaters, die man meistern muss. Stephan Märki (in Bern geborener Basler), der Regisseur dieses Tell, kann damit nicht recht umgehen und überwindet sie nicht.



Die drei «Eidgenossen», die Tell 2004 auf die Rütliwiese brachten: v.l.n.r Lukas Leuenberger, Produzent, Stephan Märki, Intendant und Günther Uecker, Installationskünstler.

Dazu kommt die etwas verhängnisvolle Neigung der Inszenierung, den Teufel mit Beelzebub auszutreiben. Um Gotteswillen kein Regietheater (was hiesse, wilde Sachen zu machen, die niemand versteht). Unmodern sollte es nun aber auch nicht sein. Was tun? Die Schauspieler machen dann immer wieder mal so eine Art Turnübungen, verrenken Arme und Beine, als ob sie Tänze einstudierten - manchmal klettern sie so tarzanartig die schrägen Holzstämme hinauf, dass man glaubt, im Zoo zu sein. Das sieht sehr komisch aus.



Walo Lüönd als Attinghausen. Er stirbt - aber nicht am Kreuz, wie das Bild Glauben macht.

Das ist alles hübsch und freundlich und schön anzusehen, an die Nieren geht es nicht. Man hätte sich ja vorstellen können, dass Tell und Gessler sich in der Altdorfer Hut-auf-der-Stange-Szene, die zum Apfelschuss führt, auf eine Weise begegnen, die offene Herablassung und genüsslichen Sadismus hier, zähneknirschende Demut und unterdrückten Hass dort, erkennen lässt. Das ist überhaupt nicht so, die beiden Herren liefern emotional leicht gestauten Text. Tell ist geradezu unterwürfig. Es wäre in der Hohlen Gasse durchaus plausibel gewesen, bei Tell so etwas wie Rachelust zu erkennen, die jetzt zur befreienden Heldentat stilistert wird. Auch das nicht. Die Geschichte kommt wie vom Blatt gespielt - will sagen flach, nicht tief.



Was soll das bedeuten? Bühnenbildner Günther Uecker wird von einem Kamerateam in die Zange genommen.

Ja, und nun noch einmal die Frage vom Anfang. Soll man oder soll man nicht? Ich finde, man sollte. Wenn das Wetter so ist wie es am Premierenabend war, dann bleiben zauberhafte und starke Bilder im Kopf. Das ist kein Widerspruch zum vorher Gesagten. Wir haben gelernt, grosse Bilder zu sehen und uns unsere eigenen Verse darauf zu machen. Der ganze Abend ist - keine Frage - von hohem ästhetischen Reiz. Und den zu erleben, lohnt die Mühe und die (nicht ganz geringen) Kosten. Wer will, kann später zuhause die interpretierenden Texte zum Beispiel im Programmheft lesen und dabei versuchen, sich selber und diese Texte in Übereinstimmung zu bringen. Es ist wie so oft. Würde das Programmheft gespielt, wäre der Abend eine Offenbarung.

Eine Liveübertragung des Tell vom Rütli plant ARTE-TV für Donnerstag, 26. August 2004 um 20.15 Uhr. Weitere Informationen in der Programmübersicht von arte-tv im PDF-Format hier unten.

Von Reinhardt Stumm

Für weitere Informationen klicken Sie hier:

• Information und Ticketbestellung

• Programm-Info von arte-tv zu den Tell-Beiträgen. pdf

• Die Urschweiz feiert gemeinsam mit Weimar - die div. Veranstaltungen

• Tellspiele Altdorf von Hansjörg Schneider und Louis Näf


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