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Artikel vom 09.09.2005

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Schmidt präsentiert

Geist gegen Ungeist

Nachdenken über das Denken: Wer bin ich? Was weiss ich?

Von Aurel Schmidt



Der Dordogner Philosoph und Begründer der Essayistik, Michel Eyquem de Montaigne, hatte einen katholischen Vater und eine dem sephardischen Judentum entstammende Mutter. Er hat sich dezidiert gegen die Verfolgung der Hugenotten ausgesprochen. Es ist daher kein Zufall, dass es in Mülhausen ein nach ihm benanntes Lyceum gibt: Unsere elsässische Nachbarstadt war bis zur französischen Revolution ein «zugewandter Ort der Alten Eidgenossenschaft» und als Hugenottenzuflucht bis dahin mehrheitlich Protestantisch (jpl). Bildquelle: Öffentliche Bibliothek von Neuchâtel.



Der Philosoph Michel de Montaigne lebte vor 400 Jahren. Seine Aktualität hat nichts eingebüsst. Er hat vor den Gewissheiten gewarnt, weil er wusste, was für ein «wogendes Wesen» der Mensch ist und wie wenig auf ihn Verlass ist. Er wollte nicht entscheiden, sondern unterscheiden.

Es gibt keinen Grund, am diesem (Datum einsetzen) einen Artikel über Michel de Montaigne zu veröffentlichen. Kein runder Geburtstag, keine neue Ausgabe seiner Werke. Aber wer sagt denn, dass man für alles einen Grund braucht? Oder er stellt sich, wenn es tatsächlich einen gibt, erst später ein.

Michel de Montaigne lebte von 1533 bis 1592, in einer Zeit des Umbruchs. Er war Philosoph, in dessen Werk, einer dreibändigen Sammlung von «Essays», diese Zeit tiefe Spuren hinterlassen hat. Montaignes Essays sind eines der grössten literarischen Werke aller Zeiten überhaupt, und man kann nur staunen über die Hellsichtigkeit, die darin zum Ausdruck kommt.

Montaignes Thema war das Nachdenken über sich, das zur Frage führt, was der Mensch weiss und wissen kann, also das am weitesten verbreitete Thema in der Philosophie: Wer bin ich? (Heute würden wir sagen: Wer ist «er», der «ich» sagt.) Das Thema hat bei Montaigne eine Form gefunden, ein Ausmass an Bedeutung, das nach 400 Jahren nicht das Geringste von seiner Aktualität eingebüsst hat.

Nirgends ist «das Ganze» zu sehen

Die Erschütterung, die Montaigne erlebte, wurde durch die Entdeckung einer fremden Welt ausgelöst (Amerika 1492) und hat das Denken in Europa aufgewühlt. Die fremden Völker und ihre nicht weniger fremden, unverständlichen Sitten, über die viele Reisenden berichteten, zwangen die Menschen in Europa, ihre Vorstellungen zu überdenken – jedenfalls soweit sie dazu fähig waren. Montaigne war es.

Er könne von nichts «das Ganze» sehen, sagte er. Alles, was wir sehen, also denken, ist nur ein Aspekt, eine Seite, eine Teilwahrheit, überall liegt noch etwas verborgen, das dazu gehört, uns aber entgeht. Zu gern sind wir bereit, als Barbarei zu bezeichnen, was nicht unseren Gewohnheiten entspricht. Damit stellte sich für Montaigne das Problem des Relativismus, in dem eine heimtückische Beliebigkeit liegt. Alles ist gut, alles in Ordnung! «Anything goes» (Paul Feyerabend). Nein, natürlich nicht! Auf keinen Fall! Doch nun stellt sich die Anschlussfrage: Wie kann ich mit meinem unvollkommenen Wissen wagen, trotzdem eine Aussagen zu machen?

Bislang hatte die Religion den Menschen einen Halt und eine Orientierung gegeben. Aber nun mussten sie feststellen, dass es viele Religionen gibt, und dass alle den Anspruch der Einzigartigkeit und Unfehlbarkeit erheben. (Auch die blutige Auseinandersetzung zwischen Katholiken und Protestanten in Frankreich gehört zum Hintergrund von Montaignes Denken.)

Montaigne zog für sich daraus die Konsequenz, dass er sich weigerte zu entscheiden und Partei zu ergreifen. Im Stil der pyrrhonischen (antiken) Skepsis vermied er es, ein Urteil zu fällen. Anstatt zu entscheiden, beschloss er, die Probleme, die er auftreten sah, zu untersuchen, und statt zu urteilen, zog er es vor zu unterscheiden. Tausend Dinge gibt es, sagte er, bei denen das Dafür genau so falsch ist wie das Dagegen. Es gibt keine Gewissheit, und der Mensch muss lernen, ohne Verzweiflung und ohne Erlösung zu leben. Das war für die damalige Zeit eine ungeheure Provokation. Aber es schien für Montaigne die einzige vertretbare Haltung.

Das liberale, weltoffene Denken in Gefahr

Das Gleiche gilt für uns heute. Daher die Aktualität Montaignes. Wir leben heute in einer Zeit, in der sich Gewissheiten verfestigen und die fürchterlichsten Folgen nach sich ziehen. Wir haben im 20. Jahrhundert die ideologischen Schrecken des Faschismus und Stalinismus erlebt, im 21. Jahrhundert scheinen neue Totalitarismen in Form von fanatischen religiösen Auswüchsen wie Unkraut aufzublühen.

Der amerikanische Schriftsteller Gore Vidal hat kürzlich in einem Interview in «Le Monde» Montaigne als den für ihn wichtigsten Autor bezeichnet. Vidal ist ein vehementer Kritiker der US-amerikanischen Politik und hat von einer «Theokratie» gesprochen, einem Gottesstaat, der sich schleichend in den USA ausbreitet; kürzlich hat einer der einflussreichen «christlichen» Fernseh-Prediger, Pat Robertson, ehemaliger republikanischer Präsidentschaftskandidat, unverblümt zum Mord am venezolanischen Präsidenten Hugo Chavez aufgerufen.

Es geht jedoch keineswegs nur um die USA und die dort an Einfluss gewinnenden Evangelikalen. Das gleiche Phänomen ist überall anzutreffen, im Islam und im Judentum, und überall ist das liberale, weltoffene, reflexive (nachdenkende, selbstkritische) Denken bedroht.


Vielleicht kommt also dieser Beitrag über Michel de Montaigne doch nicht ganz aus heiterem Himmel, sondern verfolgt eine heimliche Absicht. Montaignes Skeptizismus ist ein guter Ratschlag an unsere Zeit. Etwas Zurückhaltung, etwas weniger Beharren auf den eigenen Überzeugungen kann nicht schaden.


Darum lohnt es sich, Montaigne heute und immer wieder zu lesen. So viel Einsicht war nie. Es gibt eine prinzipielle Unentscheidbarkeit, die dem Menschen ein hohes Mass an Beschränkung auferlegt, an Gelassenheit auch, die der Ausdruck von grosser Weisheit ist und das Gegenteil der bellenden Lehrmeinungen, die man heute hören kann und muss.





Das Mülhauser Lycée Montaigne beim Bollwerk um 1909. Unter den deutschen Nazis hiess es lediglich: «Mädchen Oberschule». (Legende: jpl)

*****

Wer Montaigne lesen will, dem stehen zurzeit nicht viele Ausgaben zur Auswahl.

Am ehesten zu empfehlen ist die dreibändige bei «btb» für Fr. 54.80; es ist diejenige mit der Übersetzung von Johann Daniel Tietz, die früher bei «Diogenes» erschienen und dort heute noch in einer teuren, aber auch sehr schönen Edition erhältlich ist.

Die Ausgabe bei «Eichborn» mit der Übersetzung von Hans Stilett ist vom Format her leider unhandlich.

Weiter gibt es bei «Reclam» eine grössere Auswahl für Fr. 15.90, aber eben nur eine Auswahl, was mit bedauerlichen Mängeln der Unvollständigkeit behaftet ist.

Äusserst bedauerlich ist es, dass die Ausgabe von Herbert Lüthy bei Manesse vergriffen ist.

Bei Diogenes, Zürich, erschienen:

Essais
11.6 x 18.4 cm
2744 S., Leinen
ISBN 3-257-01921-1
3 Bände im Schuber
Euro 126.90 / sFr 218.90

Über Montaigne
Aufsätze und Zeugnisse von Blaise Pascal bis Elias Canetti
detebe 22516, 544 S.
Euro 14.90 / sFr 26.90


Von Aurel Schmidt

Für weitere Informationen klicken Sie hier:

• Michel de Montaigne bei Diogenes, Zürich


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