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Artikel vom 17.05.2016

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Konzert

Stille und Geschrei von «basel sinfonietta» am Radio

Das vorletzte Konzert im Rahmen des Saison-Programmes «Epicycles 1–6» als Aufzeichnungs-Zusammenfassung auf SRF Kultur

Von Jürg-Peter Lienhard



Umschlags-Illustration des Programms «Epicycles 1–6» von «basel sinfonietta».


Am Mittwoch, 18. Mai 2016, um 22 Uhr, strahlt das Schweizer Kulturradio SRF II einen Mitschnitt des 5. Zyklus-Konzertes «Epicycle 5 Wohnzimmer Griechenland» von «basel sinfonietta» vom vergangenen April aus. Wie es sich bei «basel sinfonietta» gehört, ist es ein gewiss ungewöhnliches «Konzert», wenn man dem so sagen will: Stille ist vorherrschend, aber auch geschrieen wird - was sich aber vielleicht am Radio weniger nachvollziehen lässt, als es im Konzertsaal des Basler Stadt-Casinos als hochinteressantes Spektakel verfolgen liess. Wie alle der Konzerte von «basel sinfonietta» ist auch dieses ein Erlebnis (gewesen) und alle, die es verpassten, haben wirklich etwas sehens- und hörenswertes verpasst. Auch wenn dem einen oder anderen ein «déjà vu» (oder «déjà entendu») vorgekommen sein mag. Für mehr hier klicken:

Wenn von «Alternativem» die Rede ist, dann haftet ihm etwas Selbstgestricktes und Latzhosiges an. Wenn in Zusammenhang mit «basel sinfonietta das «alternative Basler Sinfonieorchester» gemeint ist, dann weiss man zwar, dass die nie im Frack auftreten. Doch solche Äusserlichkeiten allein wären der Rede nicht wert. Hingegen, was in diesem Orchester an «Alternativen» zu den gängigen Konzert-Programmen ausgegraben wird - das verspricht jedes Mal von neuem eine Überraschung. Zumal, wenn man nicht schon wieder «die Fünfte» Beethovens oder Mozarts «Jupiter» hören will.

So auch diese bald zuende gehende Saison, in der «basel sinfonietta» sechs grosse Konzerte programmiert hat, die unter dem Titel «Epicycles 1–6» einen Zyklus von höchst eigenartigem Hör- und Sehgenuss boten und noch bieten werden. Zum «Alternativen» von «basel sinfonietta» gehört eben die Programmgestaltung, die die Mitglieder des Orchesters selber mitbestimmen. Das Programm kommt daher gewissermassen «von innen heraus» und wird nicht in einer Studierstube, oder schlimmer noch: abgezielt auf möglichst hohe Zuhörerzahlen, ausgewählt nach den «kassenfähigsten» Varianten der Romantik.

Nein, das ist Gruppenarbeit, Ausgräberarbeit, ist Austausch zwischen engagierten Musikern und Musikerinnen innerhalb des Orchesters oder nach Begegnungen auf Tourneen. So kommt Musik unter die Leute, so werden gängige Programmstrukturen in Frage gestellt und die Zuhörer herausgefordert: Mit Neuem, mit Spannendem und selbstverständlich auch mit Neuinterpretiertem. Um hier kein Missverständnis entstehen zu lassen: Es ist nicht Provokation um der Provokation willen und nicht Suche um der Suche willen, sondern echte Leidenschaft, engagierte Musikerseele, die aufmerksam und respektvoll die Fundgegenstände auf die Eignung untersucht, wiedergehört oder erstmals gehört zu werden. So viel habe ich von hinter der Szene erfahren können. Und vor der Szene?

Da war zum Beispiel Nummer 1, das Zyklen-Eröffnungskonzert «Pony on th Rocks», mit Titel «Epycycle 1 Island» (mit Akzent auf dem I): Isländische Sinfonik? Wer kann denn deren Komponisten fehlerfrei aussprechen, geschweige denn ein Werk von ihnen zitieren? Ja, und genau das war das Erlebnis an diesem ersten Konzert des Zyklus: Ein völlig ungewohntes Hörbild, eine Klangwelt, die aber spannend von Anfang bis zum Ende blieb. Schon allein wegen ihrem Gegensatz zwischen Wucht und Säuseln. Wie Wellen im Atlantik, die an die Insel Island branden.

Wer behauptet, dass Musik eine Universalsprache sei, der gehört in die Schämmdi-Ecke: Keines der aufgeführten Werke vermochte einen an die «Sprache» der mitteleuropäischen Klassik erinnern. Und doch vereinnahmte sie einen zauberhaft, wohl durch die «elegische Breite». «Bezaubernd» ist daher nicht unangebracht, weil meine Bekannten ebenso erstaunt über diese Klänge waren, die sie mit grösster Aufmerksamkeit in den Bann zogen. Und absolut adäquat leitete der junge Dirigent Daniel Bjarnason - selber Komponist, der auch eines seiner eigenen Werke hier erstaufführte - das Orchester «basel sinfonietta»: Seine präzisen Schläge und Einsatz-Gesten müssen für das Orchester eine Wohltat gewesen sein, zumal bei einer derart unüblichen Musik, die einen die karge Insellandschaft Islands buchstäblich hörbar machte.

Ein weiterer Zyklus, den ich verfolgen konnte, war eben auch an einem «alternativen» Ort, in dieser schrecklichen Lagerhalle am Dreispitz, deren Akustik auch so tönt, nebst dem, dass man sie kaum richtig beheizen kann: Epicycle 4, «Die Weber». Auch das eine eigene Ausgräberarbeit und zudem eine Auftragskomposition von Johannes Kalitzke, der das Multimedia-Konzert auch leitete: Live-Musik zusammen mit dem Schwarzweiss-Stummfilm «Die Weber, von 1927. Der Streifen wurde aufwändig restauriert und handelt vom Weber-Aufstand im 19. Jahrhundert in Ostdeutschland. Zu beklemmenden Bildern und Szenen kamen Töne, die der schwermütigen Stimmung im Film nicht minder angemessen waren.

Der zweitletzte Zyklus mit dem seltsamen Titel «Wohnzimmer Griechenland» ist am 24. April 2016 im Stadt-Casino Basel vom Schweizer Kulturradio SRF II aufgezeichnet worden und kommt in einer Zusammenfassung am Mittwoch, 18. Mai 2016, um 22 Uhr, auf Sendung. Ich habe die Aufführung live erlebt und war vollkommen fasziniert: Einerseits durch das Wagnis, mit den Partituren von Jani Christou etwas zu machen, was angeblich für jeden der Musiker oder Musikerinnen bereits in der Küche oder im Wohnzimmer beginnen sollte: Das Zuhören, wie ein Löffel auf eine wachsbeschichtete Tischdecke plumpst und den Unterschied heraushören, wenn es eine Gabel ist…

So kam am Konzert denn die Konzertmeisterin aufs Podest, machte die Geste des Auftakts und verharrte dabei minutenlang, genau so wie das Orchester, das gleich nach dem Auftakt den ersten Strich oder Ton anspielen sollte. Kein Blinzeln, kein Räuspern… Dafür hörte man durch die offenen Saaltüren leise Geräusche. In der Pause sah ich in einer Ecke der Garderobe ein Murmelspielgerät von dem die Geräusche stammen mussten. In der Reihe hinter mir raunte ein älterer Mann zu seiner Gattin: «Ich bin gekommen, um ’Musik’ zu hören und nicht ’Stille’…» Vielleicht weiss Robert Piencikowski von der Paul-Sacher-Stiftung, ob John Cage oder Jani Christou die Idee der «Stille» im Konzertsaal zuerst hatte? Denn Stille gibt es bekanntlich nicht hieniden - nicht mal im Grab, wo der «Totenwurm» laut dem «Schlesischen Schwan» Friederike Kempner lustvoll an den Gebeinen nagt.

Auf jeden Fall schienen mir einige der Auftritte doch etwas zu ähnlich von dem, was ich in den siebziger Jahren in demselben Saal im Rahmen der IGNM als das Neuste vom Neuen gehört oder eben als «Stille» nicht gehört hatte. Und dennoch war es spannend, gab es doch ein Erlebnis mit Erinnerungspotential durch eine Ausgräberarbeit. Denn wie sollte ein im Schnitt doch eher unter vierzig Jahre altes Publikum in diesem Konzert sich jene Zeit der Experimente und provokanter Infragestellung des Musikbetriebes sich so ein Konzert von damals vorstellen können, wenn es nirgends wieder aufgeführt wird - weil «passé»? Darum ist Ausgräberarbeit nicht zu unterschätzen - vielleicht noch wichtiger als die verzweifelte Jagd nach Neustem. Denn erstens gibts nichts Neues unter der Höhensonne und zweitens fällt sowieso nie etwas Unikates vom Himmel: Ein Mozart ohne Haydn wäre kein Mozart, ein Wagner ohne Meyerbeer kein Wagner usw.

Es wird also spannend, was das Radio SRF II an diesem Mittwoch, 18. Mai 2016, um 22 Uhr, aus diesem zweitletzten Zyklus-Konzert zu bieten hat. Und ebenso spannend wird das nächste Zyklus-Konzert «Epicycle 6 Novitas F» mit eher zeitgenössischen und sogar «klassischer Moderne»: Von Schönberg über Nono bis zu Sachez-Chiong mit E-Gitarre und Videotechnik. Und das darf man «basel sinfonietta» sowieso nicht nehmen, auch wenn es in keine Schublade von Radio noch von Feuilleton-Redaktion passt: Multimedia machen die schon lange, wissen auch wie man das schreibt, weil sie auch wissen, was das ist… Und wenn «basel sinfonietta» weiss, wovon sie was wollen, dann ist eben nicht nur Musik drin, sondern das, was die Musik drauf hat…

Von Jürg-Peter Lienhard

Für weitere Informationen klicken Sie hier:

• Details zu den Aufführungen/Programm Epicycles

• Zum Nachhören auf Radio SRF Kultur II

• Pierre Boulez an John Cage


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