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Artikel vom 30.03.2009

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Rubrikübergreifendes

Fotoreportage im Format PDF am Schluss

Porrentruy, mon amour

Eigentlich sollte man diese Geschichte gar nicht veröffentlichen…

Von Jürg-Peter Lienhard



Mein Lieblingsstädtchen Porrentruy ist tatsächlich eine Perle im Jura, so wie es hier das Geschäftsschild eines Bijoutiers paraphrasiert. Foto: J.-P. Lienhard, Basel © 2009


Oje, ich bin wieder einmal verliebt, Ja, ja, ich weiss - es ist eine Alterserscheinung. Nur: diesmal ist es nicht ein hübsches Fräulein, sondern eine alte Dame mit tiefen Furchen im Antlitz und da und dort mit Spuren von Amputation oder hässlichem Flickwerk: Die Hauptstadt der Ajoie, Porrentruy, habe ich wieder einmal mit der rosaroten Brille des Verliebten besucht und bin ihr erneut erlegen.

Von Basel aus ist Porrentruy per Zug erst seit kurzem relativ bequem (nur in Delémont umsteigen) in einer guten Stunde zu erreichen - gleichviel Zeit, wie per Auto, womit man es von Basel aus am schnellsten durch den Sundgau über Pfirt erreicht. Am Bahnhof trafen wir uns denn auch, der französische Colonel Michel Buecher in Begleitung mit dem Adjutant-chef Roland Fontaine sowie der Schweizer Panzer-Oberst und Waffenplatz-Chef, Hervé de Weck und ich. Handschlag und ab die Post, per VW-Limousine an den Privatwohnsitz des schweizerischen Obristen.

De Weck wohnt im evangelisch-reformierten Pfarrhaus, obwohl er als original Fribourger ja tief katholisch ist und sein Sohn bei der päpstlichen Schweizergarde gedient hatte. Aber, so lacht der Oberst, damit könne die «paroisse protéstante» gut leben. «Protestanten» nennt man die Evangelisch-reformierten im ehemaligen Fürstbischof-Städtchen und französischen Département Mont-Terrible und «temple» deren Kirche; immer noch so, wie es in Frankreich Pflicht ist, um den klaren Unterschied zwischen «Gläubigen», selbstverständlich katholischen, und den «Protestierenden», «Falschgläubigen», und ihren jeglichen Zierrat vermissenden «Tempeln» deutlich zu machen. Aber das weiss heute (fast) niemand mehr…

I.

Dem Französischen ist in Pruntrut sowieso auf Schritt und Tritt zu begegnen. Zumal an den Fassaden der öffentlichen Gebäude, die im Gegensatz zur bescheidenen Grösse des Kaffs, das Porrentruy eben doch ist, übertrieben repräsentativ und luxuriös sind und die mittelalterlichen Bürgerhäuser um einiges überschatten. Insbesondere die vielen «Hôtels»: das «Hôtel-Dieux», das «Hôtel Gléresse», das «Hôtel des Halles» und das «Hôtel de ville», alles keine Hotels oder Herbergen, sondern öffentliche Gebäude aus dem 18. Jahrhundert, der Glanzperiode des Fürstbistums. Einer der Architekten hiess gar Paris, und man sieht es seinem «Hôtel-Dieux» auch an, dass es der Mode der Hauptstadt entsprang.

Der Niedergang Porrentruys, über dessen Namensherkunft sich die Gelehrten streiten («Bruntrutum» für versiegte Quellen oder am wahrscheinlichsten und gemäss neuesten Erkenntnissen ist nur die Vorsilbe von Bedeutung: Pont - Brücke), begann erst nach der Französischen Revolution. Zuvor war das Städtchen prosperierender Sitz zahlreicher Bischöfe, die nach der Reformation Basels um 1527 in diese ehemalige Besitzung der Grafen von Pfirt emigrierten und später den Schutz der Habsburger von Vorderösterreich genossen. Höhepunkt dieser fürstbischöflichen Periode war die Zeit von Jakob-Christoph Blarer von Wartensee, der das die ganze Stadt optisch dominierende Schloss zu einer uneinnehmbaren Trutzburg ausbaute, ein Jesuitenkloster gründete und eine Druckerei aufbauen liess.

Die katholischen Fürstbischöfe jedenfalls regierten mit harter Hand, worüber der Turm Réfous auf dem Schloss Zeugnis ablegt: Hier wurden die «malfaiteurs» ganz christlich unzimperlich hineingeworfen - gut sechs oder mehr Meter runter durch ein Loch in der Mitteletage, die nur von Aussen erreicht werden kann -, wodurch sie sich alle Knochen oder gar das Genick brachen, aber auf jeden Fall inmitten grösstem Unrat, Rattennestern und Totengerippen von früheren Unglücklichen elendiglich dem Verhungern überlassen wurden.

Grauslich wurde mir zumute, als ich in dieses Loch hinunterblickte. Meine Nikon wollte schon gar nicht scharfstellen, obwohl unten ein Spot den schon lange sauber von alten Totengerippen befreiten Grund beleuchtet. Ein Gitter unter dem sperrangelweit offenen Deckel verhindert, dass heute ein neugieriger Tourist das selbe Schicksal erleidet, wie die armen Büsser vor nicht allzu langer Zeit. Aber die Steintreppe, die im Innern auf die Plattform des Turmes führt, wollte ich denn doch nicht besteigen, obwohl ich mir von dort oben eine grossartige Aussicht auf die Ajoie und den Jura versprach. Die hatte ich zwar auch auf der Aussentreppe, und weil es mir da schon schwindlig wurde, muss meine Nachwelt auf die Aufnahmen von noch höher verzichten; den schneebedeckten Jurakamm jedenfalls hatte ich schon ein paar Dutzend schwindelerregende Stufen zuvor im Kasten.

Kurz vor dem Einmarsch der französischen Revolutions-Truppen am 27. April 1792 floh der letzte Fürstbischof, Joseph von Roggenbach, wahrscheinlich vor der Guillotine Eulogius Schneiders. Dadurch wurde Porrentruy vorerst französisch, Hauptort des Departements Mont-Terrible, das später im Departement Oberelsass mit der Hauptstadt Colmar aufging und schliesslich nur noch den bescheidenen Status einer Unterpräfektur zugeordnet bekam. Die Bezeichnung leitet sich vom Mont Terri (Pultberg) südlich von Cornol in der Ajoie ab. Nach dem Ende Napoleons wurde Porrentruy vom Wiener Kongress Bern zugeschlagen, von dem es durch die Gründung des Kantons Jura am 1. September 1979 losgesagt wurde.

II.

Das Wappen Porrentruys ist eine Wildsau. Sie bewacht das «Hôtel de ville», das heisst, eine wunderschöne Bronze-Version des Untiers, das der Sage zufolge im Jähzorn mühelos über eine «zehn Fuss hohe» Umfriedung der Stadt sprang und erst durch die Axt eines mutigen Pruntruters zur Räson gebracht werden konnte, respektive auf der Treppe des Bürgermeisteramtes ihr Leben ausröchelte. Die wildgewordene Sau führte dem Stadtrat jedoch vor Augen, dass die Befestigung zu niedrig war und dankte es dem zuvor abgestochenen Borstenvieh postum, indem es fortan das Wappen der Stadt, die Siegel und Dokumente sowie die alten Münzen ziert. So ist es mit allen grossen Leistungen: erst durch den Tod gewinnen sie Anerkennung der Lebenden - erst der Scheiterhaufen machte aus Jeanne d‘Arc die Heldin, die sie zwar zuvor schon war…

Geschichte ist in diesem bizarren Städtchen an jeder Ecke sichtbar, und aus Sicht des volkskundlich und historisch Interessierten ist es ein «Glück», dass an Porrentruy der bittere Kelch der Renovitis und des spekulativen Abbruchhammers vorbeigegangen ist - vorläufig noch. Bereits wirbt der Jura per aufwendigen Inseratenkampagnen in Basel um Zuzüger; Roland Béguelin rotiert im Grab, denn Baseldeutsch ist fast so häufig zu hören wie das von Pâtois gefärbte Pruntruter Französisch. Apropos Béguelin: Der Panzer-Oberst de Weck, im Zivilen Geschichtslehrer am Gymnasium, erzählte mir, dass er bei seiner jüngsten Klasse Oberschüler nachfragte, was Béguelin für den Jura geleistet hatte; die Antwort blieb aus, weil die 15-Jährigen noch nie etwas von Béguelin gehört hatten…

Ich bin bezüglich des Französischen im Vorteil, weil ich mich gegen die amerikanische Mode in der Deutschschweiz stemme und mein Schulfranzösisch stets vervollkommne, aber in der Confisérie Maurer musste ich eine überraschende Aussage entgegennehmen. Das wunderhübsche Fräulein, eine Algerierin, «frontalière», mit dem Tausendundeinenacht-Namen Shéherazade, wollte partout nicht glauben, dass ich ein Basler sei: mein Französisch habe das «timbre d‘un Alsacien»…

Wegen der märchenhaft schönen Grenzgängerin bestellte ich einen Café, setzte mich so, dass ich ihr Antlitz aus ebenhölzerner Haarfarbe und tiefschwarzen Augen ungestört beobachten konnte. «Kuhäugig» kam mir in den Sinn: Das oberste Ideal der alten Griechen für Schönheit ist das Auge der Kuh. Doch mit der Zeit wurde mir gewahr, dass mein gepolsterter Sitz nass war und am Boden eine gelbliche Lache lag: Eine andere Angestellte kam mit einer Beige Servietten und der erklärenden Entschuldigung, dass hier zuvor eine alte Frau sass, die offenbar ihrer Inkontinenz freien Lauf liess…

Immerhin gibt es noch andere Lokale, wo auch Grenzgängerinnen bedienen, darin aber doch eher jüngere Leute verkehren: Les Deux Clefs ist so etwas wie ein «Café aux intellectuels», von denen es anderen Personen zufolge, die ich im Städtchen getroffen habe, sonst mangele. Aber: die gibt und gab es im Jura in anerkannt eklatanter Häufigkeit, wenngleich jeweils stets nicht massiert, aber doch immer wieder hervorstechend in Geschichte, Kunst, Literatur und Politik. Oberst de Weck zum Beispiel, als Geschichtslehrer hier doch eher eine lokale Grösse, aber im Städtchen hoch geschätzt wegen seiner bescheidenen und gelehrten Art, «colonel, mais pas un militariste». Er nannte mir den Maler Gustave Courbet, den Schriftsteller Blaise Cendrars, den Staatsgründer Roland Béguelin, den Architekten le Corbusier, den Revolutionär Pierre Péquinat, der am 31. Oktober 1740 als letzter in Porrentruy öffentlich enthauptet worden war, aber dem die nachrevolutionäre Stadtbehörde doch eine Gasse nach seinen Namen benannte.

III.

Vermag man die Stile der Zeit an den Fassaden zu erkennen, so ist der Spaziergang durch Porrentruy ein Erlebnis und eine Entdeckung, wie man sie nirgendwo mehr auf der Welt derart ungestört machen kann. Ich las tags zuvor in einer Keystone-Bildlegende über touristische Orte, die man nicht mehr besuchen sollte, dass im Jahr 2003, an einem einzigen Tag, 113 (hundertdreizehn) «Bergsteiger» sich auf dem Mount Everest ein Stelldichein gaben, auf dem höchsten Berg der Welt, dessen Erstbesteigung durch Edmund Hillary und Tenzing Norgay am 29. Mai 1953 als grossartige menschliche Leistung gefeiert wurde - aber heute von jedem Trottel dank modernster Technik mühelos bewältigt werden kann: So sei der Himalaya-Berg derzeit zu einem riesigen Abfallhaufen verkommen, übersät von gefrorenem Kot und abgestürzten Leichen…

In einer ersten Beiz ganz oben im Städtchen empfahl mir die rührig-kommunikative Wirtin, etwas weiter unten in der Strasse einen Hinterhof zu besichtigen. Noch konnte ich nicht wissen, dass viele Hinterhöfe in Porrentruy einzige Kleinode sind, echte Oasen, die in früheren Zeiten nur privilegierten Bürgerhäusern eigen waren. Ich müsse gut aufpassen, die Tür zum schönen Hinterhof nicht zu übersehen, meinte sie, aber ich solle auf das Schild «Familienplanung» (auf Französisch natürlich) achten. Prompt habe ich die Tür übersehen, aber es kam grad der Paketpöstler über die Strasse, der müsste das doch wissen, so dass ich ihn ansprach. Solche Leute wie er sind die Visitenkarte ihres Ortes, sind Ambassadoren ihrer lokalen Kultur - unbezahlt, übrigens! Ich solle noch zwanzig Minuten warten, dann sei er oben im Städtchen mit seiner Tour angekommen, dann zeige er mir etwas, wozu er als einziger den Schlüssel habe, etwas, was einzigartig sei und mich sicher interessiere.

Ja, diese zwanzig Minuten, die bereue ich sowieso nicht, denn da verschlenderte ich die Zeit, um auf das «Hôtel-Dieu» aufmerksam zu werden - und eine Entdeckung zu machen: das Ortsmuseum mit der alten Spitalapotheke und dem fürstbistümlichen Kirchenschatz. Der Pöstler war bereits oben angekommen und war im Gespräch mit zwei jungen Frauen. Zwei Deutschschweizer Touristinnen, meinte ich zunächst. Später erklärten sie mir aber, dass sie Künstlerinnen seien und jede Woche eine Reise in die Schweiz unternähmen, das sei ihre Kunst. Sie waren längst weg, als es mir zu dämmern begann, dass ich von den beiden mal am Radio hörte oder sonstwo was über sie las und ärgerte mich, sie nicht weiter ausgequetscht zu haben, denn ich entsann mich, dass ich ihr Projekt höchst interessant fand.

IV.

Vielleicht lenkte mich Fabienne Rossi ab, die zur Besichtigung des Hinterhofes mitkam. Sie ist eine Baslerin, die schon über zwanzig Jahre in Porrentruy lebt und es «wahnsinnig gern» hat. Sie betreibt ein winziges Lädeli mit Schmuck und schmuckem Kram, von dem sie «aber nicht leben kann». Immerhin koste die Miete fast nichts, aber der Umsatz ist auch fast nichts - so wie in fast allen Läden der Altstadt. Das ist doch das Bemerkenswerte an Porrentruy, dass man dort «von fast nichts» lebt, obwohl man von «fast nichts» nicht leben kann… Die Fabienne traf ich zufällig auf der Strasse im Gespräch mit einer Inuit; sie konnte sich noch schwach an mich erinnern. Ich hingegen sagte ihr freimütig, dass ich sie «früher gerne gesehen» habe, worauf sie mich lauernd fragte, wie es denn heute sei. «Siehst Du, heute sehe ich Dich das erste Mal seit langem wieder», gab ich zur Antwort und war damit aus dem Schneider…

Fabiennes Lädeli liegt nur ein paar Meter weiter oberhalb des Gerümpelladens eines Trödlers. Auf dem Trottoir vor dem Schaufenster hatte er Schachteln mit alten Tassen oder Tellern oder sonstwie Ausrangiertem in einer langen Reihe aufgestellt. Preis pro Stück: 50 Centimes. Eine Kassette mit Schlitz und gesichert mit einer dicken Ankerkette, wohl von der «Titanic», lud zur Selbstbedienung, respektive zum Selbstbezahlen ein. Im Schaufenster jedoch entdeckte ich einen französischen Stahlhelm aus der Zeit des Ersten Weltkriegs. Der hatte ein schlitzförmiges Loch, das vielleicht von einem Schrappnell- oder Schrapnell-Splitter stammte. Egal, wie die frühere Schreibweise lautet, der Einschlag kostete dem Poilus bestimmt sein Leben.

Ich war aber neugierig auf den Gerümpelladen, aber der Laden war abgeschlossen. Ein von Hand geschriebenes Schild an der Ladentüre deutete auf die zweite Tür im Hausgang, dort solle man «läuten». Es ging eine Weile, bis ich begriff, dass da gar keine Türglocke im üblichen Sinn zur Verfügung stand, sondern eine riesige Kuhglocke mit faustdickem Bemmel. Den betätigte ich mehrmals, denn vom stockdunklen Treppenhaus herunter ertönte kreischender Lärm einer Kreissäge oder eines Bohrers. Endlich verstummte oben der Lärm, und schwere Schritte kamen von sehr weit oben herunter. Inzwischen hatten sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt und ich sah, dass die Treppe eine eng gewundene Wendeltreppe war, nicht viel breiter als eine Hühnertreppe. Ein Koloss von Mann mit weissem Bart und dreckigen Arbeitskleidern kam nach endlosem Trampeln herunter; er füllte die ganze Wendeltreppe.

Später wurde mir klar, warum in der Pruntruter Altstadt so viele Häuser unbewohnt oder billig zu kaufen sind: Da kann man nicht einfach einziehen und ohne weiteres «wohnen», und vielfach hat es in den unbewohnten Häusern nur ein oder gar kein Plumpsklo…

Der Trödler zeigte mir seinen Laden. Er sei Basler und arbeite nun für seine geschiedene Frau, erzählte er. Ja, dann hätte er gar nicht zu scheiden brauchen, meinte ich listig, aber sein tiefer Seufzer verbot jegliches Nachfragen. In einem Schaft entdeckte ich einen alten Puppenwagen mit dem Baslerstab auf der Seite aufgemalt. Den solle er doch der Gigi Oeri vom Puppenhausmuseum andrehen, meinte ich hilfsbereit. Doch der Sanktnikolaus im Arbeitsgwändli winkte ab; es war ihm den Aufwand nicht wert. Dann kam meine Frage, ob der Trödel «rentiere», und der Weissbärtige - er wurde mir immer sympathischer - setzte zu einer ökonomischen Analyse der Stadtbewohner an: Früher hätten die Leute die Ware draussen auf der Strasse, die noch jetzt mit 50 Centimes pro Stück angeschrieben ist, grad alle aufs Mal gekauft; vielleicht für 20 Franken oder mehr. Heute aber, da sei Pruntrut verarmt, das Städtchen biete zuwenig Arbeit, so dass die Leute nur noch ein Stück zu 50 Centimes kauften, aber erst, nachdem sie Stück und Centimes drei Mal umgedreht hätten. Auch ich muss meine Centimes drei Mal umdrehen, aber Tassen und Alu-Teller habe ich schon genug zuhause beim letzten Umzug in den Trödel gegeben. Gratis!

Leider konnte mir der Trödler nichts über Herkunft und Schicksal des durchlöcherten französischen Helms des armen Poilus erzählen. Ich kaufte dann aber ein Schweizer Offiziers-Képi eines Oberleutnants aus dem Zweiten Weltkrieg, das auch zwei Löcher hatte - allerdings von Schaben, aber kaum von heissem Pulverdampf herrührend. Das Képi mit seinen beiden goldenen Spaghettis wollte ich Colonel Buecher schenken, der sich für die erfolgreiche Erneuerung der Gedenkstätte von Oberleutnant Schaffner in der Nähe von Porrentruy einsetzte. Schaffner wurde bei der Grenzbesetzung im Zweiten Weltkrieg zum Verhängnis, dass er zu dick war. Er war Anführer einer Grenzpatrouille, die auf Schweizer Seite beobachtete, wie die 1. französische Befreiungsarmee unter General de Lattre-deTassigny und in Zusammenarbeit mit unserem General Henry Guisan die Deutschen aus dem Elsass verjagte. Ein schwarzer nordafrikanischer Mitrailleur wähnte die Schweizer Patrouille als Nazi-Truppe und begann zu ballern. Das Detachement warf sich sofort auf den Boden; erwischt hat es nur den korpulenten Oberleutnant, die gemeinen Soldaten der Grenzwacht waren zu ihrem Glück gertenschlank.

V.

Zurück zum Pöstler. Er hatte den Schlüssel zu einem der schönsten Hinterhöfe, wo in der Mauer am gegenüberliegenden Gebäude, das den Hof abgrenzte, ein Eisenrelief mit der Pruntruter Wildsau eingelassen war. Aber das Spannendste war in einem wohnlich gestalteten Kellergewölbe in einer daneben versteckten Grotte zu sehen: Ein Sodbrunnen - selbstverständlich mit Wasser drin. Nein, eben nicht selbstverständlich, korrigierte der Pöstler: Der Sodbrunnen ist am höchsten Punkt dieses Stadtteils - physikalisch findet sich Wasser nur am tiefsten Punkt. «Miraculeux», fast, nein doch, ein Wunder!

Dort, wo der Ort am Tiefsten ist, dort fliesst ein Fluss mit dem merkwürdigen Namen l‘Allaine. Ich habe mir sagen lassen, dass es noch weitere Flüsse und Bäche im Ort mit ganz poetischen Namen gibt, die ich darum hier wiedergebe: la Chaumont, la Favergeatte, la Beuchire, le Creugenat, le Bacavoine, und so weiter, die ihn durchfliessen oder die Umgebung bewässern, und eben Porrentruy den Namen als Brückenstädtchen verliehen. Ich habe im Wörterbuch nachgesehen, ob diese Namen eventuell eine Bedeutung haben, die man auf Deutsch übersetzen kann. Nein, es sind Eigennamen, wie schön!

Am Flüsslein l‘Allaine steht ein Hotel mit einer Terrasse, wo ich auf einer meiner früheren Entdeckungsreisen den Dichter aus dem Schwarzbubenland, Dieter Fringeli, traf, als er sich clandestin mit der Evelyn Braun fern von Basel sich verlustieren wollte. Immerhin war er derart platt über so einen Zufall, dass er mich einlud zur gemeinsamen und anregenden Unterhaltung, später zum Essen, und schliesslich endete die lange Nacht am Morgen weit draussen in der jurassischen Pampa… Aber: das getäferte Intérieur dieses Hotels, das mir so zugetan war, das wuchtig-reiche Holzwerk mit den üppigen Schnitzereien, das galt dem neuen Besitzer nichts, und der Depp liess alles herausreissen und durch banale Imitation im Louistoutedesuite-Stil ersetzen… Das hat mich geknickt, auf meiner diesmaligen Liebesreise.

Übrigens versilberte ich mal meine Entdeckung in Porrentruy bei der Basler Zeitung. Ich konnte den Publizisten Hanns U. Christen, von BaZ-Lesern früher als hochgebildeter Feuilletonist «-sten» heiss verehrt, dazu gewinnen, zu meinen Fotos im Café de l’Ours blanc einen wunderschönen Text zu schreiben und ihn in dem von Aurel Schmidt damals verantworteten Teil zu publizieren. Das Café de l’Ours blanc war früher die Musikschule, als Porrentruy noch von der vergangenen gloriosen Uhrenindustrie profitieren konnte.

Als ich das Eisbären-Café auf einer meiner Liebesreisen in den Jura entdeckte, war ich von den Gemälden an den Wänden fasziniert. Es sind nämlich keine eigentlichen «Bilder», die man aufhängen kann, sondern sie sind direkt auf die Wand gemalt. Von meiner volkskundlichen Ausbildung im Ecomusée d'Alsace wusste ich, dass im vorletzten Jahrhundert sogenannte Lüftelmaler aus Bayern umherzogen und gegen Kost und Logis Fassaden verschönerten oder in Beizen auf die früher üblichen mit Ölfarbe konservierten Sacktücher, die anstelle der Tapeten die Wände bekleideten, malten. Stets pinselten sie auch grad den «Rahmen» dazu - im Stil Tromp l’oeuil mehr oder weniger täuschend echt. Die reisenden Künstler solcherart waren natürlich nicht die erste Gilde unter den Könnern, aber sie hatten den Geschmack der Zeit und der Gewöhnlichen jeweils schnell erlickt: Röhrende Hirsche zuhauf oder lokale Ereignisse. Beides hatten sie im Café de l’Ours festgehalten: den unvermeidlichen Zwölfender in der Brunft, aber, und das ist das Spannende, auch die Gefangennahme von preussischen Offizieren durch die französische Armee Napoleons des Dritten - dem früheren Artillerieoffizier der Schweizer Armee, der im Thurgau aufwuchs und nur «français fédéral» sprach, immerhin besser als Ueli Maurer, heutiger Verteidigungsminister der Eidgenossen, der Französisch nie lernen wird, so sehr er sich auch (vergeblich) anstrengt.

Das militärische Sujet an den Wänden des Café de l’Ours blanc kann man als so etwas wie die Tagesschau der noch TV-freien 1870-er Jahre betrachten, war doch die französische Grenzgegend um Porrentruy bedeutender Schauplatz der Auseinandersetzungen zwischen den Armeen des Thurgauer Hasardeurs und den kaiserlichen Deutschen. Das auf die Wand gemalte Bild der französischen Husaren-Offiziere hoch zu Ross, die die zu Fuss marschierenden gefangenen Deutschen nicht etwa mit «militärischem Gruss» empfangen, sondern mit gelüftetem Képi, so wie Militärs Frauen begrüssen, ist selbst für den Historiker Oberst de Weck ein «mystère». Ich für meinen Teil glaube hingegen, dass der Künstler, Léon Prètre, eben kein Militär war und daher auch nicht wusste, wie sich Militärs grüssen… Leider ist das Café de l’Ours blanc momentan geschlossen, aber der Stadthistoriker Marcel Berthold ist überzeugt, dass die Wandmalereien erhalten bleiben und nach einer künftigen Renovation wieder dem Publikum zugänglich sein werden.

VI.

Der über dem Fluss aufsteigende andere Stadtteil Porrentruys - im Tal-Falz verläuft die Hauptstrasse, auf der sich durch je ein erhalten gebliebenes Stadttor der Verkehr zwängt -, ist der Schlosshügel. Er thront und trotzt, besser, klotzt, über der Stadt; sein Turm mit Verlies überragt alles, und zur Unterstadt hin prangt ein mächtiges Jura-Wappen, damit man weiss: da hocken die Nachfolger der Fürstbischöfe, die jurassische Gerichtsbarkeit und der Käfig. Zu Fuss verlangt es einiges von Besuchern wie von Angestellten. Mehrmals musste ich nach dem Weg fragen, mehrmals hatte man mich darauf aufmerksam gemacht, dass ich die Tür verpassen könnte, wo es per Lift zum Schloss hinaufgehe. In Porrentruy versteckt sich so vieles hinter unscheinbaren Türen.

Eine junge Frau in höchster Eile, aber dennoch äusserst hilfsbereit, sagte, ich solle ihr einfach folgen. Nachdem sie das Türlein aufgestossen hatte, fand ich mich in einem viereckigen Turm mit breiter Holztreppe wieder. Nichts von Lift. Sie rannte voraus, zwei, drei Stockwerke, ich keuchend hinterher, im vierten schliesslich hoffte ich auf den Lift, doch dann gings durch einen langen Gang, durch eine gedeckte Holzbrücke über den breiten Wehrgang, und da standen wir endlich vor dem alten Schindler-Lift. Das Modell ist in Basel schon lange verboten, weiss ich mit Bestimmtheit; der Aufzug hat nicht einmal eine Sicherheitsschwelle und nur Platz für drei Personen. Vier französische Touristen gaben uns freundlicherweise den Vortritt. Der Aufzug musste allerdings nur eine Etage bewältigen… dann kamen wir im Kapellenturm an, wo nochmals eine Treppe, immerhin nur noch ein Stockwerk, auf uns harrte. Das Fräulein hüpfte oben über die Kopfsteine des riesigen Schlossplatzes und verschwand in einer Türe des Justizpalastes.

Ich dachte, sie sei gerichtlich vorgeladen und verspätet, weil in solcher Eile, aber später sah ich sie rauchend unter einer Tür; sie war eine Angestellte. Aber meine humorige Frage, ob «des malfaiteurs» noch heute in den Turm geworfen würden, beantwortete sie überraschend mit einem ernst gemeinten «je ne sais pas»… In welcher Abteilung sie arbeitet, wollte ich daher gar nicht wissen…

Die Aussicht vom Schloss auf das mittelalterliche Städtchen hinunter mit seinen alten Dächern: wenn man nicht schon verliebt ist in seinen Anblick, so wird man es von da oben erst recht! Das Schloss selbst mit dem Gefängnis im hinteren Trakt - die Zellen gäben das schönste Hotel Europas! -, wirkt wegen seiner massiven Grösse beklemmend, bestärkt durch die jurassischen Insignien, die auf unglaublich hohen Masten flattern.

Also geschwind weg von diesem Ort alter und neuer Richtstätte, hinunter die vielen Treppenstufen und über das Brücklein, wo ich auf einmal die Silhouette eines riesigen Gebäudes gewahr werde: Hier hätte ein Museum für den verstorbenen Basler Künstler Remy Zaugg eingerichtet werden sollen. Das von einer Stiftung aufgebrachte Geld für die Renovation des imposanten Gebäudes jedoch verflüchtigte sich auf rätselhafte Weise, und seither steht es leer. Auf der Seite zum Fluss sind am Gemäuer drei Steinwarzen von etwa Fassgrösse sichtbar. Emilie, die ich später in einer Ausstellung im «Hôtel aux Halles» kennenlernte, erklärte mir, dass sie der Sage nach die Aufgaben haben, «böse Geister» fernzuhalten. Doch ich kannte Remy Zaugg und kann bestätigten, dass er ein grosser Geist und kein böser war. Aber welcher böse Geist verhindert, dass sein Andenken in diesem Haus verwirklicht werden konnte?

VII.

Emilie hütete die Ausstellung «Home entertainment» im Hof des «Hôtel des halles». Aufmerksam geworden durch die hell erleuchteten Fenster guckte ich in den Raum und wurde überrascht von ihrem jungen Gesicht, das mich erwartungsvoll, nein, einladend anblickte: Es blieb mir nichts anderes übrig, als einzutreten. Später gestand sie mir, dass ich der einzige Besucher an diesem Tag war und der sie durch sein Interesse doch vor der Langeweile in einer Ausstellung ohne Besucher befreite. Die Chemie-Aufgaben, die sie für die kommende Prüfung zu lösen hatte, waren auch nicht besonders spanndend.

Dass die Ausstellung trotz ihres populären Sujets «Hollywood» unbesucht blieb, wurde mir dank Emilies Erläuterungen bald klar: Die wenigen Ausstellungsgegenstände, Videos und Zeichnungen, «Installation» genannt, boten auf den ersten Blick nichts Spektakuläres, sondern verlangen vom Besucher ein assoziatives Mitdenken, ein intellektuelles Teilnehmen an den Aussagen der Künstler und ist der eigentliche «Gegenstand» der Ausstellung. Sie wird bestritten von drei Künstlern, die sich als Kollektiv verstanden wissen wollen, die ihre Arbeiten kollektiv angehen, ausführen und unter dem Namen «collectif_fact» auftreten: Annelore Schneider (geb. 1979), Claude Piguet (geb. 1977) und Swann Thommen (geb. 1979).

Ihre Frage, ob im visuellen Supermarkt hollywoodscher Prägung noch Platz sei für Bilder, die sich von Clichés unterscheiden, suchen sie vordergründig durch Hollywood zu beantworten - roter Teppich, Ganstgerfilmsequenzen und Logotrailers -, doch eigentlich hat die Frage gar nichts mit Hollywood zu tun. Sondern mit der Sehgewohnheit, mit den festgeprägten Clichés in den Köpfen der Leute, wo ein Matterhorn bereits das «Aha: Paramount» auslöst, wo deswegen vielleicht das Matterhorn gar nicht mehr als Natur oder Naturereignis, Bilder nicht mehr als Kunst und Kunst nur noch als Kommerz wahrgenommen wird?

Um sieben Uhr schloss Emilie die Ausstellung und begab sich mit mir auf das endlich verdiente Bier im Les deux clefs. Dort wollte die Serviererin tuschelnd von Emilie wissen, was ich mit ihr zu tun habe. Doch Emilie blieb diskret; offenbar werden Fremde in Porrentruy «hintenherum» beurteilt, statt dass man sich direkt an sie wendet. Das ist eben ein Zeichen von Provinzialität - die andere Seite von Pruntrut, ohne rosarote Brille gesehen…


Schauen Sie sich die Fotoreportage über Porrentruy an (alle Fotos: J.-P. Lienhard, Basel © 2009). Wegen der grossen Menge, und um den Server nicht zu überlasten, sind die Fotos hier im Format PDF eingestellt.

Laden Sie die auf mehrere Files verteilte Reportage als PDF-Dokumente hier herunter:

1. Die Fotos von der Ausstellung «Home» des «collectif_fact». Die Reihe mit Emilie will die perspektivische Illusion verdeutlichen. Emilie scheint eine Zwergin zu sein - ist es aber nicht…

2. Fotoimpressionen aus der Altstadt Porrentruy in zwei Teilen zu je zirka 2 Megabyte.


Bestellen Sie die Fotos in hochauflösendem Format auf CD/DVD oder online. Sie können ebenfalls hier den Text zur Wiederverwertung freischalten lassen © 2010: redaktion@webjournal.ch

Von Jürg-Peter Lienhard

Für weitere Informationen klicken Sie hier:

• Bilder der Ausstellung «collectif_fact» mit Emilie

• Pressetext zur Ausstellung «collectif_fact»

• Fotorundgang durch Porrentruy I. im Format PDF

• Fotorundgang durch Porrentruy II. im Format PDF


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