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Artikel vom 25.07.2008

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J.-P. Lienhards Lupe

Sommerglosse

Unalltägliches im Neubad

Etwas höchst Ungewöhnliches ereignete sich am Freitag, 25. Juli 2008, in diesem sehr, sehr typisch schweizerischen Quartier

Von Jürg-Peter Lienhard



Der Drehorgelmann muss sich wohl verirrt haben: Aber seine vielen netten (und spendenfreudigen) Zuhörer freuts erst recht. Foto: J.-P. Lienhard, Basel © 2008


Wer im Neubadquartier bei offenem Fenster hustet, muss sich nicht wundern, wenn die Polente anmarschiert! Daher: was war denn das für ein «Lärm», an diesem Freitag, dem 25. Juli 2008, der so plötzlich im späten Vormittag im Basler Neubadquartier so unbekümmert erscholl? Hat der liebe Nachbar seine Stereoanlage wieder mal aufgedreht? Doch es war kein Popprock-Rockpopp-Tschumm-Tschumm - nein, es war «Der kleine Gardeoffizier - Adieu, adieu…», ohne Gesang, aber ich kenne Text und Melodie, die von Robert Stolz stammt und in den 30er-Jahren ein Hit war: Ein Drehorgelmann mit Strohhut hatte sich offenbar in unser Quartier verirrt… Immerhin klimperten ein paar Münzen auf den Asphalt!

Tja, so ein akustischer Farbtupfer an einem so schönen Sommertag - was der alles anrichten kann! In der Innenstadt beklagen sich die dort arbeitenden Leute über den «Lärm» der Strassenmusikanten. Der Drehorgelmann im Neubadquartier aber lockte immerhin ein paar spazierende Rentner an, die ihn neugierig in ein Gespräch verwickelten und tatsächlich eine Münze ins Körbchen auf der Drehorgel fallen liessen.

Die Drehorgel stand auf einem Kinderwagen-Fahrwerk. Ein modernes mit grossen Rädern, so wie sie wieder Mode sind, und vorne auf der Orgel konnte ich aus der Distanz von meinem Balkon aus leider nur noch «Berlin» entziffern.

Ich warf ihm 2 Franken hinunter. Die Münze schlug auf dem Macadam auf, hopste einmal und rollte dann mindestens zehn Meter auf ihrer Kante die Strasse hinunter. Der Orgelmann mitsamt dem Orgelwägelchen hinterher, ohne die Melodie zu unterbrechen oder sie gar aus Takt und Tempo fallen zu lassen. Ich merkte: Das war ein Profi… Und aus den Antworten auf die Fragen der Rentner entnahm ich, dass der Französisch antwortete - aber ob er ein Franzose war, das konnte ich doch nicht bis zu mir hinauf heraushören.

Aber der «Kleine Gardeoffizier» geht mir seither nicht mehr aus den Ohren. Die Melodie erinnerte mich an eine Shakespeare-Aufführung in Graz - jawohl, es war Shakespeare -, wo meine damalige Liebste Regie-Hospitantin war und ich nach Graz fuhr, um Kritik zu üben… Die Shakespeare-Aufführung eines ungarischen Regisseurs, der kein Wort Deutsch verstand und in den Proben - bei einigen war ich auch anwesend - seine Anweisungen von einem Dolmetscher übersetzen lassen musste, diese Inszenierung war komplett missraten. Es fing schon damit an, dass der Bühnenbildner die französischen Szenen mit der Trikolore schmückte. Mit der Trikolore, die erst nach der französischen Revolution die Fahne Frankreichs wurde…

Noch peinlicher war der bescheuerte Einfall des österreichischen Assistenten, die Schauspielerinnen, die im Stück Französisch-Unterricht geniessen sollten, mit einem lächerlich tönenden falschen französischen Akzent sprechen zu lassen. Ich weiss nicht mehr, welche Nummer eines der Heinrichen es war, aber so eine schlechte Inszenierung vergisst man am besten vollständig!

Nicht vergessen habe ich hingegen den «kleinen Gardeoffizier», auch wenn es ein vollkommen bedepperter Regieeinfall war, den Schauspieler ausgerechnet diese Melodie in einem Shakespeare-Stück beim Abgang singen zu lassen.

Oder doch? Ja, der Komponist dieses Ohrwurms aus den 30er-Jahren, Robert Stolz, war am 25. August 1880 in Graz geboren worden. Einer österreichischen Stadt, wo heute immer noch deutschtümelnde Deppen unverfroren ihre Nazi-Sympathien und Parolen äussern!

Nach gewissen Begegnungen in Graz konnte ich mir gut vorstellen, wie es Robert Stolz in dieser Stadt in der Nazizeit zumute gewesen sein musste: Er emigrierte 1938 nach dem «Anschluss» Österreichs über Zürich und Paris nach New York, nachdem er nach der Machtergreifung Hitlers im Jahr 1933 auf 21 Fahrten mehrere Juden und politisch Verfolgte in seinem grossen Auto versteckt nach Österreich schmuggelte. Stolz war in Deutschland und Österreich damals einer der beliebtesten Komponisten von Operetten und Volksschlagern und wurde reich damit. Allerdings stahlen ihm die Nazi sein Vermögen, nachdem er vor ihnen die Flucht ergriffen hatte und sich weigerte, «in Ehren» zu diesem ehrlosen Gesindel nach Deutschland zurückzukehren.

Um die Erinnerung an Robert Stolz abzuschliessen, erwähne ich noch, dass er nach dem Krieg aus den USA zurückkehrte und an seine früheren Erfolge anknüpfen konnte. Zwar starb er am 27. Juni 1975 in Berlin, doch beigesetzt wurde er am 4. Juli 1975 unter Anteilnahme zentausender Trauergäste in einem Ehrengrab auf dem Wiener Zentralfriedhof, in unmittelbarer Nähe der Präsidentengruft. An seiner Seite ruht seine letzte von fünf Ehefrauen: «Einzi», die am 18. Januar 2004 in Wien verstorben ist.

Robert Stolz mag ein Schlagerkomponist gewesen sein, aber er hatte Charakter, und darum gefällt mir sein kitschiger «Gardeoffizier» zumindest so gut, wie ich die Interpretationen von Karajan, Furtwängler, die Kompositionen von Richard Strauss und Konsorten Mitläufer respektiere!

Falls Sie sich mal mit dem Text des 30er-Jahre-Schlagers von Robert Stolz vertraut machen wollen, so lesen sie ihn (der Vollständigkeit halber) hier nachfolgend. Auf dem Internet kann man auch die Melodie hören - die klimpert sehr metallisch, weil sie aus Urheberrechtsgründen nicht anders veröffentlicht werden kann.

Da kommt mir aber noch etwas anderes in den Sinn: Der «Gardeoffizier» war Schlager, den bis lange nach dem Zweiten Weltkrieg alle kannten und vor allem mitsingen konnten. Als die inzwischen verstorbene sagenhafte Wirtin Lucie vom «Baslerstab» in Hegenheim ihren 80. Geburtstag feierte, war ein riesiger Haufen ihrer Schweizer Gäste in der nun «Chez Lucie» umgetauften Beiz eingeladen.

Ein Mitglied der Allschwiler Dorfmusik unterhielt die zumeist über 60-jährigen Kunden Lucies mit Handorgel-Musik und Liedern, die in meiner Kindheit noch in den Schulkolonien angestimmt worden waren. Niemand konnte mehr die Melodie, geschweige denn die Texte mitsingen. Der Handorgelmann wechselte daher auf «zeitgenössische» Schlager, sehr bekannte, von den Beatles an «aufwärts». Da gabs plötzlich von den Gästen ein kurzes Einstimmen in die Melodie, stockte aber beim Text und verstummte kläglich nach dem Refrain, dessen Worte mangels Gedächtnis mit «Lalala» ersetzt wurden…

Da ging mir etwas auf: Die Generation der 60-Jährigen war die 68-er-Generation, die schon aus Trotz keine traditionellen deutschsprachigen Lieder mehr sang. Amerikanische Pop- und Rockmusik war in deren Jugend angesagt - auch wenn sie kaum Amerikanisch verstanden. Unterhaltung kam im Fernsehen immer mehr amerikanisiert auf, und innert kürzester Zeit war traditionelles Liedgut ausser Kurs, zumal auch wertvolles, poetisches und solches, das nicht heimattümelnd war.

Mit fatalen Folgen: Heute verstehen auch die ganz Jungen unter «Fest» vor allem Trinkfeste. Die Feste, wo man gemeinsam Lieder sang, Spiele machte und wie ein Lumpen am Stecken tanzte, die gibt es nicht mehr, sind vorbei. Kunststück, wenn schon die Alten keine Lieder mehr kennen oder bestenfalls nur noch «Lalala» trällern können.

Wo man singt, da lass Dich nieder, denn böse Menschen kennen keine Lieder. Das Bonmot von annodazumal muss man heutzutage umformulieren: «…denn geistig Arme kennen keine Lieder!» Nein?




Adieu, mein kleiner Drehorgelmann, adieu - und komm bald wieder mal hier vorbei! Foto: J.-P. Lienhard, Basel © 2008


Robert Stolz, Melodie aus dem Film «Das Lied ist aus» von 1930, Text: Walter Reisch

Und eines Tages mit Sang und Klang
Da zog ein Fähnrich zur Garde
Ein Fähnrich, jung und voll Leichtsinn und schlank
Auf der Kappe die goldene Kokarde
Da stand die Mutter vor ihrem Sohn
Hielt seine Hände umschlungen
Schenkt ihm ein kleines Medaillon
Und sie sagt zu ihrem Jungen:
Adieu mein kleiner Gardeoffizier, Adieu, Adieu
|: Und vergiß mich nicht :|
Adieu mein kleiner Gardeoffizier, Adieu, Adieu
|: Sei das Glück mit dir :|
Stehe gerade, kerzengerade
Lache in den Sonnentag
Was immer gescheh'n auch mag
Hast du Sorgenminen, fort mit ihnen
Ta-ta-ra-ta-ta
Für Trübsal sind andere da

Adieu mein kleiner Gardeoffizier, Adieu, Adieu
|: Und vergiß mich nicht :|
Adieu mein kleiner Gardeoffizier, Adieu, Adieu
|: Sei das Glück mit dir :|
Adieu, Adieu mein kleiner Offizier, Adieu


PS: Man merke: Kitsch kommt vor Vergessen!


Von Jürg-Peter Lienhard

Für weitere Informationen klicken Sie hier:

• Hier hören Sie die Melodie zum «kleinen Gardeoffizier»


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